Schon seit Jahrzehnten hatte es in Prag Streit zwischen den Landsmannschaften an der Universität gegeben. Nach den weltlichen Eingriffen in die Selbstverwaltung der Prager Universität durch den böhmischen König Wenzel IV. war das Maß jedoch voll: Im Kuttenberger Dekret vom Januar 1409 hatte der König die Stimmenverhältnisse in den Universitätsgremien zu Ungunsten der Deutschen umgekehrt, mehrere hundert Nichtböhmen verließen im Mai 1409 aus Protest ihre Heimatuniversität. Zunächst suchte man nur eine sichere Bleibe, bald jedoch wollte man die Zeit im Exil auch wissenschaftlich nutzen. Eine größere Gruppe Exilanten hatte sich in Leipzig versammelt, die Stadt und der Landesherr förderten tatkräftig diese Idee und als auch noch die päpstliche Genehmigung errungen werden konnte, nahm der Plan feste Gestalt an.
Vermutlich startete der Lehrbetrieb in Leipzig schon in September 1409 – offiziell wurde der erste Leipziger Universitätsrektor am 2. Dezember 1409 in sein Amt gewählt. Wenige Tage danach verzeichnete Rektor Johannes von Münsterberg (1360-1416) die Namen der anwesenden Studenten und Magister auf sechs Pergamentblättern. Nur 22 Studenten konnte er eintragen, das weitere Schicksal der Neugründung erschien damals mehr als ungewiss.
Die Universitätsgründung in Leipzig geschah in der Rekordzeit von nicht einmal einem Jahr. Sie war aber kein studentischer Massenexodus, wie der Postkartenzeichner im Jahre 1909 glaubte. Wahrscheinliche haben im Frühjahr 1409 einige hundert Universitätsangehörige Prag verlassen.
So entschlossen sich die Fakultäten rasch dazu, alle „pragenses“, also die ehemals in Prag eingeschriebenen Studenten, von den Gebührenzahlungen in Leipzig zu befreien und alle fremden Prüfungsleistungen ohne Vorbehalt anzuerkennen. Eine neue Universität eröffnete dem akademischen Nachwuchs berufliche Möglichkeiten, so wundert es nicht, dass bereits im ersten Semester 46 graduierte Studenten aus Prag nach Leipzig kamen. Am Ende des ersten Semesters, im April 1410, hatte Münsterberg schon insgesamt 369 Studenten eingeschrieben und gut die Hälfte von ihnen entrichtete sogar die volle Immatrikulationsgebühr von sechs Groschen.
Eingeschrieben war ein Student auf Lebenszeit – eine Relegation kannte die mittelalterliche Universität nur als Strafe für „Trunksucht, Spiel, Umgang mit lüderlichen Frauen und in leichteren Fällen von Ungehorsam.“ Von der Universität und damit auch von den akademischen Standesrechten konnten Studenten und Magister auf eine gewisse Zeit (von zwei bis 20 Jahren) oder bis zur Erfüllung von auferlegten Bedingungen ausgeschlossen werden. Bei schweren Straffällen (Diebstahl, Totschlag, Vergewaltigung, Krawalle mit Waffenanwendung) erfolgte dagegen die Exclusion, der dauernde Ausschluss aus der akademischen Gemeinschaft.
Über die unbotmäßigen Studenten der ersten Jahre liegen nur wenige Angaben vor, zunächst radierte man ihre Namen einfach nachträglich aus der Matrikel heraus. Bis zur Reformation wurden von den etwas mehr als 34.000 eingeschriebenen Studenten nur rund 135 mit diesen Strafen belegt.
Mit jährlich ein bis zwei schweren Straftaten war Leipzig noch eine ruhigere Studentenstadt. Der Rektor konnte schon froh sein, wenn sich das Gewaltpotential der ungezügelten Studentenschaft nach außen richtete – Ordnungsbemühungen der Professoren konnten lebensgefährlich sein. Auch in Leipzig gab es immer wieder bewaffnete Studentenkrawalle, wie die berüchtigte Schusterfehde von 1471 oder die Tumulte wegen einer neuen Kleiderordnung im Jahre 1482 – damals mussten Angriffe auf den Rektor vom Landesherrn unter Todesstrafe gestellt werden.
Bezeichnenderweise entwickeln sich in der reichen Messestadt jedoch friedlichere Verhältnisse unter der Studentenschaft. Der Zulauf an Studenten sprach für einen meist geordneten, ruhigen Universitätsbetrieb. Schon im Jahre 1475 wurde auch der erste hochadlige Student zum Rektor gewählt. Adolf von Anhalt (1458-1526) war damals kaum siebzehn Jahre alt und studierte im neunten Semester. In den nächsten 150 Jahren gab es noch 15 weitere fürstliche Studentenrektorate in Leipzig. In der Regel wurden die frisch immatrikulierten Studenten gleich im ersten Semester zum Rektor gewählt und ihnen ein Professor als eigentlicher Amtsverwalter zur Seite gestellt.
Überhaupt waren in Leipzig Veränderungen im ruhigen Fluss der Dinge angesichts der Prager Ereignisse vom Mai 1409 nicht allzu beliebt. Die Humanisten stießen daher am Beginn des 16. Jahrhunderts auf wenig Gegenliebe in Leipzig. Im Wintersemester 1507 begann Johann Rhagius (1457-1520), auch Aesticampianus genannt, seine Vorlesungen in Leipzig aufzunehmen. In seinem Gefolge reiste als Schüler u.a. Ulrich Hutten (1488-1523) und in Leipzig kam Caspar Borner (1492-1547), der spätere Leipziger Reformrektor, hinzu. Kaum vier Jahre später verließ Aesticampianus Leipzig wieder unter skandalträchtigen Umständen. Nach einer öffentlichen Abrechnung mit seinen akademischen Gegnern wurde er auf 10 Jahre von der Universität relegiert. Damit war der Streit aber keineswegs beendet, vielmehr wurde seine Leipziger Vertreibung noch in den sogenannten Dunkelmännerbriefen offenherzig dargelegt.
Wenige Jahre später veränderte die Reformation allerdings die Leipziger Verhältnisse grundlegend. Einen der Kristallisationspunkte der deutschen Geschichte bildete dabei 1519 die berühmte Disputation zwischen Martin Luther (1483-1546) und Johann Maier von Eck (1486-1543) über die neuen Lehren des Reformators. Die unter Leitung der Universität in der Leipziger Pleißenburg stattfindende Auseinandersetzung bewirkte den endgültigen Bruch Luthers mit dem Papst, als der Wittenberger erklärte, dass weder Papst noch Konzil die höchste Autorität in Glaubensdingen besäßen und dass nicht alle Gedanken von Jan Hus (1370-1415) ketzerisch seien. Später weihte Luther die – 1968 aus politischen Gründen gesprengte – Paulinerkirche zur ersten evangelischen Universitätskirche in Deutschland.
Der Reformation verdankte die Universität aber auch ihre großzügige Fundierung, die ihr bis ins 20. Jahrhundert den Ruf als eine der reichsten deutschen Universitäten eintrug. 1543 war sie von Herzog Moritz in den Besitz des früheren Dominikanerklosters eingewiesen worden. Fünf eigene Universitätsdörfer sorgten danach für den finanziellen Unterhalt der Hochschule.
Im Laufe der Jahrhunderte sammelte sich überhaupt so einiges an Kapital an. Im Jahre 1875 stellte der Universitätssekretär Moritz Meltzer ein Stiftungsverzeichnis zusammen, das über 500 Stiftungen für Leipziger Studenten auflistete. Neben Freitischen für die Speisenversorgung und Freiwohnungen für Studierende, gab es hochdotierte Preisausschreiben für wissenschaftliche Arbeiten, Sachleistungen an Studierende bestimmter Wissenschaftsdisziplinen und zahlreiche Stiftungsfonds für Studenten und Promovenden.
So ist der Aufstieg Leipzigs auch den Studierenden zu verdanken. Nach der Reichsgründung war Leipzig als modernste und damals wahrscheinlich bestausgestattete Großstadtuniversität, an einem der zentralen Kreuzungspunkte der Eisenbahnverbindungen gelegen, bequem erreichbar. Binnen kurzem litt die soeben baulich erweiterte Universität schon wieder unter Platzmangel. Aber umgehend stellte der sächsische Staat kurzfristig und großzügig Mittel zur Verfügung. Allein 28 neue Hörsäle mit 3280 Sitzplätzen entstanden bei dem Umbau des Hauptgebäudes am Augustusplatz im Jahre 1897. Auch die innere Ausstattung folgte diesen Intentionen und ließ sich an Großzügigkeit, Ideenreichtum und künstlerischem Schmuck kaum überbieten.
Professoren, deren Namen noch heute berühmte sind, trugen ihren Teil dazu bei, Leipzig als Stadt der Wissenschaften bekannt werden zu lassen. Die drei Theologen Christoph Ernst Luthardt (1823-1902), Franz Delitzsch (1813-1890) und Carl Friedrich August Kahnis (1814-1888), bildeten jenes Leipziger Dreigestirn, das ihre Fakultät zu einem attraktiven Zentrum des konfessionellen Luthertums werden ließ. Bei den Juristen ragten die Namen von Adolf Wach (1843-1926) und Bernhard Windscheid (1817-1892) hervor, die im gemeinsamen Wirken mit Karl Binding (1841-1920), Rudolph Sohm (1841-1917) und Ludwig Mitteis (1859-1921) eine Glanzzeit der Leipziger Juristenfakultät heraufgeführt hatten. Für die Mediziner seien nur an die Namen von Paul Flechsig (1847-1929), Carl Ludwig (1816-1895) oder Paul Zweifel (1848-1927) erinnert, die mit ihren neuartigen Methoden einen ernormen Zulauf für die medizinischen Fächer bewirkten.
In der wesentlich größeren Philosophischen Fakultät fällt die Beschränkung auf wenige Namen noch schwerer. Denn zweifelsohne besaßen der Geograph Friedrich Ratzel (1844-1904), der Psychologe Wilhelm Wundt (1832-1920) und der Historiker Karl Lamprecht (1856-1915) die notwendige wissenschaftliche Aura, um immer wieder die größten Hörsäle bis zum letzten Platz zu füllen. Ebenso oft klagte der Chemiker Wilhelm Ostwald über den nicht abreißenden Zulauf aus der Studentenschaft, der zahlreiche Neugierige in seine immer wieder überfüllten Laboratorien zog. Die wissenschaftliche Attraktivität zeigt sich auch bei den Promotionen – Wundt, Ostwald und der Philosoph Max Heinze (1838-1909) sowie der Anglist Richard Paul Wülker (1845-1910) betreuten insgesamt mehr als 2000 Dissertation in ihren Leipziger Jahren und zählen damit noch heute zu den erfolgreichsten deutschen Doktorvätern.
Zu einem ganz besonderen Höhepunkt in der Leipziger Universitätsgeschichte gestaltete sich die 500-Jahrfeier von 1909. Leipzig galt damals als Weltschule, als wissenschaftliches Zentrum und als akademisches Vorbild.
Das 20. Jahrhundert beendete den Aufstieg Leipzig ebenso plötzlich wie er begonnen hatte. Im Ersten Weltkrieg starben nicht nur rund 1700 Universitätsangehörige im Felde, die gekappten internationalen Wissenschaftsverbindungen beeinträchtigten die Entwicklung der „Weltuniversität“ sehr viel nachhaltiger. Der Zweite Weltkrieg ließ schließlich die Leipziger Studentenzahlen auf einen Stand absinken, wie er zuletzt bei der Reichsgründung von 1870 gelegen hatte. Die Bombardierung aus der Luft hinterließ am Leipziger Augustusplatz eine Trümmerlandschaft, in der lediglich die Universitätskirche das Inferno relativ unbeschadet überstanden hatte. Ausgerechnet diese intakte Kirche wurde dann 1968 gesprengt: ein besonders deutliches Zeichen der SED-Machtpolitik an die Wissenschaft, aber auch an die Leipziger Bevölkerung. Politischer Widerstand, wie er in der Nachkriegszeit von Wolfgang Natonek oder Herbert Belter gegen das neue Regime geleistet worden war, konnte tödlich enden. Erst mit dem Ende der DDR knüpfte die Universität Leipzig an die alten Traditionen wieder an: als eine der erste Aktionen legte sie den Zwangsnamen Karl-Marx-Universität ab.
Heute ist Leipzig bemüht, wieder als eine der deutschen Traditionsuniversitäten wahrgenommen zu werden und zugleich ihre wissenschaftliche Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die Besinnung auf Tradition und Fortschritt prägt auch das gegenwärtige Universitätsjubiläum aus Anlass der Gründung vor 600 Jahren.
Leipzig war und ist seit 1409 eine der studentenfreundlichsten Universitäten. Die berühmtesten Absolventen Leipzigs haben stets nicht nur in ihren eigentlichen Wissenschaften renommiert, sie prägten und prägen über das wissenschaftliche Umfeld hinaus: der Jurastudent Johann Wolfgang Goethe wurde als Schriftsteller („Mein Leipzig lob ich mir!“, Zitat aus der Studentenszene in Auerbachs Keller) bekannt, der Philologe Friedriche Nietzsche formte die geistige Grundhaltung ganzer Generationen und die Physikerin Angela Merkel ist als Bundeskanzlerin politisch für das Schicksal unseres Landes verantwortlich.
Von Jens Blecher.