Im Wintersemester 1507 nahm Aesticampianus seine Vorlesungen in Leipzig auf, in seinem Gefolge reiste als Schüler u.a. Ulrich Hutten (1488- 1523) und in Leipzig kam Caspar Borner (1492-1547) hinzu. Kaum vier Jahre später verließ Aesticampianus Leipzig wieder unter skandalträchtigen Umständen. Nach einer öffentlichen Abrechnung mit seinen akademischen Gegnern wurde er deswegen auf zehn Jahre von der Universität relegiert. Damit war der Streit aber keineswegs beendet, vielmehr wurde seine Leipziger Vertreibung noch in den sogenannten Dunkelmännerbriefen offenherzig dargelegt.
Johann Rhagius wurde um 1457 in Sommerfeld als Sohn des Matthias Rak geboren. Im Mai 1491 nahm er unter der latinisierten Namensform Iohannes Aesticampianus ein Studium in Krakau auf, das er mit dem Baccalaureat, wahrscheinlich sogar mit dem Magistertitel beendete. 1499 ging er über Wien nach Bologna, um seine Studien fortzusetzen. Dort freundete er sich mit Jakob Questenberg (1460-1527) an, der in Rom lebte und durch dessen Vermittlung er wohl in den Genuss einer besonderen Ehrung kam. Um das Jahr 1500 erhielt er vom Papst seine Ernennung zum gekrönten Dichter, zum poetus laureatus. Diese direkt aus der päpstlichen Hand empfangene Gnadenerweisung bedeutete zu jener Zeit noch eine besondere Auszeichnung. Damit war unter anderem das Recht verbunden, an jeder Universität eigene Lehrveranstaltungen, außerhalb der akademischen Hierarchie, anbieten zu dürfen. Die Sitte, Dichter feierlich mit dem Lorbeer zu bekränzen, ging ursprünglich von den Griechen über die Römer auf die mittelalterlichen Kaiser über. Seit dem 12. Jahrhundert vereinzelt ausgereicht, wurde dieser Ehrentitel durch Kaiser Friedrich III. (1415-1493) im deutschsprachigen Raum neu begründet. Im Jahre 1487 verlieh er auf dem Nürnberger Reichstag Conrad Celtis (1459-1508), dem akademischen Lehrvater und geistigem Vorbild von Aesticampianus, diesen Ehrentitel. Gerade weil diese Auszeichnung eine so besondere war, sie außerhalb der akademischen Gelehrsamkeit stand und auch das Vorrecht der universitären Titelverleihung brach, wurden ihre Träger an den Hohen Schulen Europas nicht immer gern gesehen.
Poetae laureati waren berechtigt an allen Universitäten des römischen Reichs die Poesie und Eloquenz zu lehren – eigene Lehrstühle dafür gab es aber nur sehr wenige. So ging das 1501 von Kaiser Maximilian (1459- 1519) in Wien gegründete Collegium Poetarum (das eine Sonderstellung zwischen Fakultät und Institut einnahm) schon nach wenigen Jahren wegen Mangels an Absolventen wieder ein. Der dort zu erlangende Titel eines poeta laureatus war dem symbolischen Anspruch nach als zumindest gleichrangig dem Magister oder Doktor angelegt – wie eine zeitgenössische Dürergrafik belegt: unter den dargestellten Abzeichen der Poetenfakultät finden sich sowohl Doktorring als Doktorhut. Sehr bald entwickelte sich zwischen den Poeten und den akademischen Magistern eine Auseinandersetzung über den Vorrang in der ständischen Gelehrtenwelt. Während einzelne Poeten die „leeren Titel der akademischen Gelehrsamkeit“ ablehnten, obwohl sie selbst graduiert waren (Hutten: 1506 Baccalaureus in Frankfurt/Oder, Celtis: 1479 Baccalaureus in Köln, 1485 Magister in Heidelberg), suchten sie andererseits ihre eigene Stellung durch die Überbetonung der formellen Dichterkrönung zu erhöhen.
Celtis rechnete beispielsweise nach „Jahren des Lorbeers“, d.h. nach den Jahren seit seiner eigenen Dichterkrönung. Neben den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen versuchten die verfeindeten Parteien, persönliche Verfehlungen im Sittenwandel und bösartige Eigenschaftszuschreibungen auf die jeweils andere Gruppe zu projizieren, um sie im denkbar schlechtesten Lichte darzustellen. 1507 kam nun, schon vorbelastet durch einen seit 1497 schwelenden Leipziger Streit zwischen Poeten und ihren Gegnern, Aesticampianus aus Frankfurt/Oder in die Messestadt. Er hoffte in Leipzig auf einen Neuanfang, nachdem er von den vorherrschenden scholastischen Lehrmeinungen in Frankfurt enttäuscht war. Schon ein knappes Jahr später befand er sich in einem heftigen Streit mit der Artistenfakultät um die von ihm befürwortete Neuübersetzung der Schriften von Aristoteles. Den Streit verschärfend kam noch hinzu, dass er sich dabei wiederholt abwertend über das Magisterium äußerte. In überlieferten Sentenzen aus jenen Tagen heißt es bei Aesticampianus, „ein Poet wiege zehn Magister auf“ oder die Leipziger Gelehrten seien nicht „Magister der sieben freien Künste, sondern der sieben Todsünden.“ Ungeachtet fakultätsinterner Absprachen, hielt er auch noch parallel zu öffentlichen Vorlesungen seine eigenen, dazu konkurrierenden privaten Lektionen ab. Die akademischen Korporationen revanchierten sich mit formaler Diskriminierung. Einladungen zu Doktor- und Magisterschmäusen blieben aus, oder man rückte den Poeten in der Rangordnung bei offiziellen Akten absichtlich weit nach hinten. Bei einer Abschiedsrede 1511 verschaffte Aesticampianus seinem Ärger über die Leipziger Magister mit einer formgewandten Rede Luft und bezeichnete sie bei dieser Gelegenheit unter anderem als „schmutzige und ruhmlose Seelen ohne Bildung und Witz.“ Die Universitätsversammlung, der alle Leipziger Magister angehörten, entzog ihm darauf die Universitätszugehörigkeit auf die Dauer von zehn Jahren. In der Matrikel findet sich noch der später hinzugefügte strafverschärfende Zusatz „pridie quam moreretur“.
Aesticampianus, dessen Schüler Caspar Borner Jahrzehnte danach für eine erhebliche Modernisierung und Reformierung der Leipziger Universitätsordnung sorgte, ging frohen Herzens von Leipzig nach Rom. Dort promovierte er zum Doktor der Theologie, lehrte anschließend in Paris und erhielt als 60jähriger noch eine Professur in Wittenberg angeboten. Im freundschaftlichen Verbund mit den Reformatoren um Martin Luther und Philipp Melanchthon konnte er an der Leucorea bis zu seinem Tod im Jahre 1520 erfolgreich und hochgeachtet wirken.
Von Jens Blecher.
Literatur: Aesticampianus Leipziger Abschiedsrede von 1511. In: Otto Clemen: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte. Ernst Koch (Hrsg). Band I. Leipzig 1982. S. 262-266. Emil Reicke: Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit, Nachdruckauflage der 1924 erschienenen zweiten Fassung. Köln [ohne Jahr].