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Der Schrebergarten

Karen Gaukel
Der Schrebergarten

„Sehr geehrter Herr Rektor!
Seit Bestehen unseres Vereins ist es das erste Mal, daß wir einen Rector magnificus als Mitglied und Garteninhaber in unsern Büchern führen dürfen. Wir ge-statten uns daher, Ihnen, hochverehrter Herr Rektor, anläßlich der Übernahme dieses hohen akademischen Amtes unsere herzlichsten Glückwünsche auszusprechen, und begrüßen Sie
Mit vorzüglicher Hochachtung.“

Universitätsarchiv Leipzig. UAL Theodor-Litt-Nachlass P 3-0030.

Bei der Bearbeitung des Theodor-Litt-Nachlasses stieß ich auf das obige Dokument. Anlässlich des feierlichen Rektorwechsels und Amtsantrittes von Theodor Litt als Rektor der Universität Leipzig am 31. Oktober 1931 sandte der Schreberverein der Westvorstadt / Leipzig, unterzeichnet vom Vorsitzenden Arno Müller und Schriftführer Max Thierfelder, Glückwünsche.
Theodor Litt besaß also einen Schrebergarten. Auf der Suche nach Fakten und Hintergründen begab ich mich ins Deutsche Kleingärtner-Museum, dass sich im Vereinshaus der Kleingartenanlage „Dr. Schreber“, ehemals Schreberverein der Leipziger Westvorstadt, und zwar in der Aachener Straße 7, befindet.
Dort erfuhr ich, dass Theodor Litt am 3. März 1930 in den Schreberverein der Westvorstadt Leipzig eingetreten war.5 Zunächst besaß er keinen Garten. Dies war nicht ungewöhnlich. 1930 zählte der Schreberverein 352 Mitglieder, aber nur 154 Gärten.6 Dem Verein gehörten wohlhabende Leipziger Bürger wie beispielsweise der Fabrikinspektor Adolf Blüthner7 und der Fabrikdirektor Walter Cramer, sowie zahlreiche Handwerksmeister, Kaufleute, Ärzte und Juristen an, die dessen Ziele, die leibliche und geistige Erziehung der Kinder nach besten Kräften zu fördern, mit ihrer Mitgliedschaft unterstützten.

Die Geschichte des Kleingartenwesens einmal näher betrachtet, stößt man auf die Tatsache, dass die Schrebervereine sich lange Zeit als Bildungs- und Erziehungsvereine zum Wohle der Stadtkinder verstanden. Ein Beispiel für die hohen Ansprüche der Vereinsarbeit fand ich zufällig: ein Elternabend des Schrebervereins der Westvorstadt zu Leipzig am 9. April 1910, auf dessen Programm der „lehneiche Vortrag des Herrn Stadtverordneten Lehrer E. Hiemann zum Thema Elternrechte und Schulgesetzreform stand. Im Anschluss an den Vortrag folgten „genußreiche Darbietungen“ mit Werken unter anderen von Schubert und Mozart. Die Künstler, wie der Konzertmeister Emil Kolb, waren allesamt Mitglieder des Schrebervereins.
10 Zufällig traf ich im Verlauf meiner Recherchen für diesen Beitrag mit der Urenkelin von Emil Kolb, Frau Dagmar Geithner, Bibliothekarin am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften an der Universität Leipzig, zusammen. Emil Kolb, geboren 1870 in Speyer, gestorben 1954 in Leipzig, verheiratet mit Josepha, geb. Niermann, war Konzertmeister im Gewandhaus. Er wohnte in der Frankfurter Straße 10 und war 8eit 1904 Mitglied im Schreberverein (Garten-Nr. 77, vormals 43). Zu Ewald Hiemann, dem Referenten des Abends, konnte ich keine Lebensdaten ermitteln. Allerdings fand ich im Bibliothekskatalog zwei interessante Publikationen von ihm: Die geistigen Strömungen der Gegenwart und die Lehrerschaft (Leipzig, Dürr’sche Buchhandlung 1921) und Der Schulkompromiß und der Säch8ische Lehrerverein (Leipzig, Greßner & Schramm 1920).

Die Mitgliederlisten des Leipziger Schrebervereins der Westvorstadt zeigt, dass die meisten Vereinsmitglieder in den umliegenden Stadtvierteln wohnten und arbeiteten.12 Zu den Bildungsbürgern im Schreberverein ergibt sich aus den Mitgliederverzeichnissen des Vereins für die Jahre 1930 und 1933 die folgende Statistik.
Von insgesamt 416 Mitgliedern waren 49 akademisch gebildete,

davon:

12 im Schuldienst tätige Lehrer, Oberlehrer, Studienräte, sowie ein Schuldirektor;
10 Ingenieure, davon ein Student der Ingenieurwissenschaften;
10 Mediziner, davon zwei Zahnärzte und zwei Universitätsprofessoren;
7 Juristen, davon je ein Regietangs-, Amtsgerichts- und Justizrat, zwei Rechtsanwälte, ein Fabrikbesitzer und ein Syndikus;
4 Geisteswissenschaftler: dabei Theodor Litt und ein weiterer Universitätsprofessor;
2 Architekten;
3 Pfarrer, davon ein Universitätsprofessor und
1 Apotheker.

Die weiteren Ausführungen zu den Vereinsmitgliedern sollen auf die Universitätsangehörigen beschränkt bleiben. In den Jahren 1930 und 1933 waren neben Theodor Litt vier Universitätsprofessoren und ein Universitätsbeamter Mitglied im Schreberverein der Westvorstadt.
Der Pfarrer, Assyriologe und Religionswissenschaftler, Prof. D. Dr. Alfred Jeremias (1864 — 1935), war seit 1926 Mitglied im Schreberverein. Er besaß keinen Garten. Von 1890 bis 1933 wirkte er 11 Jahre als Diakonus und 32 Jahre als Pfarrer der Lutherkirche zu Leipzig (Bismarckstraße 25 — heute Ferdinand-Lassalle-Straße) und wohnte in der Schreberstraße 5 — lebte und wirkte also im Einzugsgebiet des Vereins. Im Zusammenhang mit der Neuordnung der sächsischen Kirche war Jeremias 1919 Stadtverordneter, 1922 ehrenamtlicher Stadtrat und 1925 bis 1931 Dezernent für die städtischen Museen. An der Universität Leipzig wirkte Jeremias seit 1905, zunächst als Privatdozent für Religionsgeschichte und ab 1921 als außerordentlicher Professor. Die Theologischen Fakultäten von Leipzig und Groningen in Holland verliehen ihm die Ehrendoktorwürde. Jeremias war eine markante Persönlichkeit. Seine Kindergottesdienste wurden von bis zu 800 Kindern besucht, die Bibelstunden waren sein Lieblingsgebiet und berühmt war die Hausmusik im Hause Jeremias. In einem Nachruf von 1935 ist nachzulesen, dass Jeremias „im Umgang mit Menschen … eine soziale Persönlichkeit im besten Sinne des Wortes“ war. „Er war sonderlich im Geheimen ein Nothelfer der Gestrandeten und hat vielen zu neuem Aufstieg verholfen. Die Gewaltigen der Erde hörten ihn gern, und er hat ihnen mit unbeugsamer Wahrheitsliebe seinen Mann gestanden.“

Allgemein bekannt ist, dass zu den Mitgliedern des Schrebervereins auch Heinrich Brockhaus (1858 — 1941) gehörte. Er war seit 1919 Vereinsmitglied, hatte den Garten Nr. 102 (heute Garten Nr. 140) gepachtet und wohnte 1930 in der Hauptmannstraße 1. Der Kunsthistoriker Prof. Dr. Heinrich Brockhaus war der Sohn von Eduard Brockhaus und entstammte der berühmten Leipziger Verlegerfamilie. An der Universität Leipzig lehrte er 1885 —1913. Von 1897 bis 1912 vom Hochschuldienst beurlaubt, war er Direktor des Deutschen Kunsthistorischen Instituts in Florenz!‘
Prof. Dr. med. Willi Schmitt (1886 – ?), Privatdozent an der Universität Leipzig und Oberarzt der Universitäts-Poliklinik war seit 1930 Vereinsmitglied und pachtete laut Mitgliederverzeichnis von 1933 den Garten Nr. 124. 1933 schied Schmitt aus dem Universitätsdienst aus und ließ sich als Facharzt für Innere Medizin in Leipzig nieder. 1952 bis 1958 kehrte er als Lehrbeauftragter für Innere Medizin an die Universität zurück.
Der Universitätsbeamte laut Berufsbezeichnung im Vereinsregister war Paul Heinz (1897 — 1961). Er war seit 1929 Mitglied im Schreberverein, besaß aber keinen Garten. Sein Name ist im Mitgliederverzeichnis von 1933 nicht mehr enthalten. Er war also nur kurzzeitig Vereinsmitglied. Heinz, gelernter Maschinentechniker aus Coswigk bei Merseburg, war von 1922 bis 1945 als Pedell und Nuntius der Theologischen Fakultät tätig. 1945 wurde er wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft entlassen und war anschließend Bauarbeiter und Pförtner. 1953 stellte ihn die Universität wieder ein. Bis zu seinem Tod war er als Magazingehilfe in der Universitätsbibliothek tätig.

Der außerordentlicher Professor für Chirurgie an der Universität Leipzig und Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Diakonissenkrankenhauses in Leipzig-Leutzsch, Paul Sick (1871 — 1947), lebte seit 1906 in Leipzig. 1909 wurde er Mitglied des Schrebervereins und pachtete den Garten Nr. 77 (heute Nr. 122). Sick wohnte in unmittelbarer Nähe des Vereins: Schreberstraße 13 und zog zwischen 1930 und 1933 in die Sebastian — Bach — Straße 5. Sick wird an anderer Stelle in diesem Beitrages nochmals genannt. Zwischen ihm, seiner Familie und Theodor Litt und dessen Familie entwickelte sich ungefähr ab 1928 ein freundschaftliches Verhältnis?‘
Vom Senior der Medizinischen Fakultät und Direktor der Chirurgischen Klinik der Universität Leipzig, Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. med. Erwin Payr (1871-1946),23 wird Sick 1933 als ruhige, stille Persönlichkeit und ungemein sympathischer gütiger Mann charakterisiert.24
Nach diesem Ausflug in die Geschichte des Schrebervereins kommen wir nun zurück zu Theodor Litt. Seit dem 3. März 1930 Vereinsmitglied, zunächst ohne Garten, besaß er ein Jahr später im Juli 1931 einen Garten. Unterlagen, die ein genaues Datum der Gartenübernahme dokumentieren, existieren nicht mehr.

Die erste, uns hinterlassene schriftliche Notiz zum Litt’schen Schrebergarten, enthält ein Brief vom 13. Juli 1931. Darin schrieb Litt an seine auf Reisen befindliche Ehefrau: „Liebe Mutter! …Ich hatte gestern Nachmittag bei schönstem Wetter vier Arbeitsstunden im Garten. Trotz Lautenmusik konnte ich mich vortrefflich vertiefen. Am Abend habe ich dann gründlich gegossen. Und heute Morgen habe ich bis acht Uhr geschlafen! Heute Morgen regnet es. … Gruss und Kuss von Vater.“ Am Ende des Briefes zeichnete sich Litt im Garten.

„Am Abend habe ich dann gründlich gegossen. Und heute Morgen habe ich bis acht Uhr geschlafen! Heute Morgen regnet es.“ Theodor Litt zeichnete sich bei der Gartenarbeit in einem Brief vom 13. Juli 1931 an seine Frau Anni. Theodor-Litt-Nachlass UAL B2-1048

Aus dem Mitgliederverzeichnis von 1933 ist zu erfahren, dass Litt den Garten Nr. 134 besaß. Dessen vorherige Besitzerin war Gertraud Schöbel, verwitwete Geschäftsinhaberin, wohnhaft An der Elster 16. Im April 1938 gab Litt den Garten wieder auf.28 Wer der unmittelbare Nachbesitzer war, ist nicht mehr zu ermitteln. Ab dem 1. November 1941 gehörte der Garten Nr. 134 dem Kaufmann Hans Gdynia, wohnhaft Hindenburgstraße 108.
Dass Litt mit der Aufgabe des Gartens auch seine Mitgliedschaft im Schre-bervereins gekündigt hat, ist wahrscheinlich, aber nicht belegbar.
Warum trat Litt in den Schreberverein ein? Wie hat er am Vereinsleben teilgenommen? Weshalb pachtete er einen Garten? Welche Gründe gab es für die Aufgabe des Gartens? Quellen, vor allem die Vereinsunterlagen dieser Jahre, sind nicht mehr vorhanden. Im Nachlass von Theodor Litt sind in einigen Dokumenten Hinweise zu finden. Eine Frage muss völlig unbeantwortet bleiben, und zwar wie Litt am Vereinsleben teilgenommen hat. Ansonsten ist es möglich, Bruchstücke aneinanderzureihen und mit Hilfe von Spekulationen Antworten zu finden.
Die Familie Litt lebte seit 1920 in Leipzig. Sie wohnte seit dieser Zeit in der Beethovenstraße 31 und damit relativ nah am Schreberverein der Westvorstadt.
Theodor Litt war ein sehr naturliebender Mensch. Ob die Ziele des Vereins sein Interesse weckten, ist nicht zu rekonstruieren. Festzuhalten ist, dass sich 1930 die allgemeine Lage durch die Weltwirtschaftskrise zunehmend verschlechterte. Auch Universitätsprofessoren mit einem gehobenen Einkommen sahen sich existenziellen Problemen gegenübergestellt. Theodor Litt war Vater von drei Kindern.31: Gesundheitliche Probleme der Kinder, vor allem seiner Tochter Irene und damit verbundene kostspielige Kuraufenthalte in der Schweiz verschärften die finanzielle Lage der Familie. Ein Garten in der Nähe, der Spielplatz des Vereins und die Angebote des Vereins für die Kinder ideal für die Familie.

Anhand des Briefwechsels zwischen Litt und seiner Frau, die oft mit den Kindern zu den schon erwähnten Kuraufenthalten unterwegs war, ist ersichtlich, dass die Familie Litt bereits 1928 sparsam leben musste.

  1. Juni 1928: „Liebes Mütterlein! Es ist, glaube ich, das erste Mal in unserer Ehe, dass ich Dir zu Deinem Geburtstag schriftlich zu gratulieren habe. Trotz aller Trennung sind wir doch an diesem Tage wohl immer beisammen gewesen, und ich habe die Gratulation mit einem schallenden Schmatz absolvieren können. Heute da ich es mit Tinte und Feder soll, kommt mir wieder die Unzulänglichkeit aller verbalen Äusserungen über diesen Punkt peinlich zum Bewusstsein. Was ich Dir und damit zugleich uns und unseren Kindern wünsche, das weißt Du nur allzu genau, denn die Umstände machen es grausam deutlich. Also reden wir nicht viel davon! Ich gebe Dir im Geist den Gratulationsschmatz, den Du reichlich verdient hast, und hoffe, dass beide Büblein ihr Bestes tun werden, damit der Tag trotz allem ein festlicher ist. Ich bewillige als Beitrag zum Feste 30 bis 40 frcs.: Verwendung nach Deinem Belieben! Ein paar Franken mehr machen auch nichts aus, aber wesentlich mehr darf es diesmal wirklich nicht sein. Die Reise ist doch wirklich auch eine Art Geburtstagsgeschenk! Grindelwald und das Zusammensein mit dem Brüderpaar ist doch kein Pappenstiel! Dies zur Rechtfertigung des kärglichen Geschenks. Irenchen und ich werden im Geiste bei Euch sein. Bei ihr ist alles Wesentliche unverändert. Die grosse Schwüle, die hier seit Tagen herrscht, macht ihr Unbehagen, auch auf mir lastet sie ziemlich. Gestern Abend sollte sie wieder geimpft werden. … [Neue Kleidung, Erhöhung des Schulgeldes und wahrscheinlich Extrawünsche von Sohn Alfred bewegen Litt zu den folgenden Sätzen.] … Ich hoffe aber, dass Alfred wenigstens gelegentlich, in Stunden ruhiger Besinnung, sich klar macht, weshalb wir sparen müssen. Vielleicht versucht er einmal, sich in die Lage Irenes hineinzudenken, wenn ich nicht mehr als Geldverdiener da bin. Kann er etwa die Garantie dafür übernehmen, dass er dann in der Lage ist, für Irene zu sorgen?… „
  2. Juni 1928: „… Du schneidest die Wohnungsfrage an. Natürlich spricht manches für diesen Wechsel, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir niemals eine so angenehme und so billige (!) Wohnung bekommen werden. Bei jedem Wechsel werden wir sicherlich 1-1 1/2 tausend Mark mehr anlegen müssen. … „
  3. Juni 1928: „…Geld, Geld und wieder Geld! So gellt es mir in die Ohren. Gut, dass wenigstens ein Bruchstück unserer verstreuten Familie geringe Bedürfnisse hat. Ich habe soeben einmal genau nachgerechnet, was Anna und ich während der verflossenen 28 Tage Juni im Haushalt für Ernährung verbraucht haben: es ist pro Tag etwa 2,85 M, aber pro Person nicht einmal die berühmten 1,50 M! Was sonst an Kosten dazu kommt, ist minimal wenig, so dass also momentan in der Beethovenstr. wirklich billig gelebt wird. Also Alfred muss mehr Taschengeld haben! Ich bewillige pro Woche 4 frcs, aber ich möchte jetzt wirklich für einige Zeit nichts mehr von weiteren Erhöhungen hören! Für die 14 Tage, die er etwa noch allein im Fridericianum sein wird, bewillige ich für Ausflüge (aber auch nur für solche!) zusammen für beide Wochen weitere 15 frcs. Wenn aber dann immer noch weitere Ansprüche kommen, werde ich ernstlich böse; ich kann nicht immer wieder dieselbe Rede über die Notwendigkeit des Sparens halten. Wenn die Grösseren mehr Geld haben, so haben sie eben reichere Eltern und keine kranke Schwester. Zum Eislauf braucht Alfred doch wohl nichts weiter als Schlittschuhe? Natürlich soll er sporteln soweit der Arzt es erlaubt: aber auch hier können wir nicht einen eleganten Sportkavalier aus ihm machen. Es scheint da oben doch eine recht läppische und gigerlhafte Gesellschaft zu sein. … „
  4. Januar 1929: „…Geld schicke ich in der nächsten Woche, in der ich Vorträge in Görlitz und Dresden habe; es ist in diesem Monat etwas knapp!… „
  5. Januar 1929: „… Zur Wohnungsfrage: Hinausziehen würde mein Dasein untragbar erschweren. Ich muss häufiger in die Universität als die meisten Kollegen; oft 3 mal am Tage. Das wäre ein ewiges Hin- und Herfahren. Wir können Rudolf reichlich Luft verschaffen mit den nötigen Hilfskräften. Die müssen wir hinzuziehen, damit mein Dasein nicht unerträglich und aufreibend wird. Ausserdem – sollen wir weiter von Irenchen wegziehen? Leutzsch ist keine besonders gesunde Wohngegend, und das Völkerschlachtdenkmal liegt am entgegengesetzten Ende. Überhaupt: schriftlich kann diese Frage nicht entschieden werden. … Es ist nur jetzt alles etwas viel zusammen; der Betrieb in d. Universität ist voll im Gange…. In den Osterferien habe ich ein paar Vorträge, will aber meist zu Hause sein (Darum habe ich doch das Baltikum abgelehnt!) … Am 2. Februar werde ich für, 200 M eine halbe Stunde in Berlin Rundfunk sprechen. Auch dieser Zuschuss kommt sehr gelegen.“
  6. Januar 1929: „… Die Höhe meiner Kolleggeldeinnahmen steht erst im Februar fest, denn dann kommt die zweite Rate. Ich bekam im Dezember schon über 3000 M … Das Geld ist momentan knapp: ich selbst habe bis Monatsende noch 15 M disponibel. … Am 2. Februar fahre ich nach Berlin, wo ich sogar 2 Mal – für 2 verschiedene Gesellschaften – Radio töne. Es ist gut wegen der Kasse. Auch in Dresden soll ich im Februar noch einmal sprechen…. „
  7. Januar 1929: „… Nun Deine Fragen: Themata meiner Radio-Vorträge: beide Deutsche Welle: ‚Wissenschaft und Bildung – bei der Berliner Welle ‚Die Bedeutung des Berufs für das Leben‘. Letztere zahlte 250 M mit Reisespesen, letztere hoffentlich so gut wie damals. Die Reise lohnt sich also schon. Ich werde im Hotel schlafen, … ‚Ablesen‘ kann ich meine Vorträge nicht, denn ich habe keine Zeit sie auszuarbeiten… „
  8. Februar 1929: „… Ich freue mich, dass Ihr Sonne habt. Hier hat wieder eine Mordskälte eingesetzt. Die Grippe blüht allenthalben … Gestern Morgen war es mit der Kälte wirklich schlimm (18-20 Grad unter!); dabei war das Coupe, in dem ich nach Berlin fuhr (3 Stden!) so gut wie völlig ungeheizt. Es ist mir aber nicht schlecht bekommen. Man erkältet sich dann am wenigsten, wenn man es am sichersten erwartet! Heute Morgen kehrte ich also mit 375 M Reingewinn … von Berlin zurück. Es ist wirklich zum Lachen! Man faselt 2 x 25 Minuten und bekommt so angenehm den Beutel gefüllt. Wie viel lukrativer als Bücherschreiben! Übrigens hat jetzt auch die ‚Mirag‘ meine Mitwirkung erbeten. Nun wir können das Geld ja wahrhaftig gebrauchen. …‘
  9. Februar 1929: „… Du fragst nach den Ausgaben. Ich habe Deine Ausgaben garnicht zusammengerechnet, muss aber feststellen, dass alle unsere Ausgaben zusammengenommen eine schwindelnde Höhe erreichen. Mit weiteren ‚Unternehmungen‘ würde ich deshalb etwas zurückhaltend sein, sofern sie viel Geld kosten. Ohne meine Vorträge kämen wir nicht durch; ich müsste ein Papier verkaufen, und auch so ist es jetzt knapp!“ …

Den Funken für die Bemühungen um einen Schrebergarten wird wahrscheinlich Professor Paul Sick gezündet haben. Sick war seit circa Anfang 1928 behandelnder Arzt von Irene Litt. Schwer an Tuberkulose erkrankt, wurde Litts Tochter bis zu ihrem Tod im September 193042 im Diakonissenkrankenhaus ärztlich versorgt und gepflegt. Zwischen den Familien Litt und Sick entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis. Die gegenseitigen Besuche führten sehr wahrscheinlich auch in Sicks Garten.

Zur Aufgabe des Gartens wird Folgendes beigetragen haben. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann eine gravierende Umgestaltung des deutschen Kleingartenwesens. Am 29. Juli 1933 wurde in Nürnberg der Reichsbund der Kleingärtner und Kleinsiedler e. V. gegründet. Der Vereinsvorstand war nun der Führerring. Die nationalsozialistische Ideologie drang sehr schnell in die Kleingartenanlagen ein. Schon früh fanden auf den Spielplätzen und Vereinswiesen, Aufmärsche der Hitlerjugend statt. Der Schre-berverein der Westvorstadt bildete keine Ausnahme. Litt hatte sich nach häufigen Zusammenstößen mit den nationalsozialistischen Parteiorganen auf eigenen Antrag emeritieren lassen. Differenzen zwischen ihm und dem Führerring sind sehr wahrscheinlich.

Am 2. Mai 1938 schreibt Litt an seine Frau:
.. Ich bin sehr froh, dass wir ihn [den Garten] abgegeben haben, seitdem ich … gehört habe, dass im Laufe der nächsten Zeit alle Hecken beseitigt und durch Zäune mit Forsytien ersetzt werden müssen. … Uniformierung auf allen Seiten … „.
Nach den chronologischen Betrachtungen zum Litt’schen Schrebergarten, folgen einige Anmerkungen zum Gartenalltag. Aus den Hinweisen im Briefwechsel zwischen dem Ehepaar Litt und den Notizen von Frau Litt in ihrem Tagebuch45 ist herauszulesen, dass Theodor Litt kein passionierter Gärtner war. „… Sonntag sehr idyllisch im Garten, wo alles tropisch wächst. Ich bin etwas mit der Schere hineingefahren. …´´
Der Garten diente ihm als grünes Arbeitszimmer und zur Erholung. Die Gartenarbeit lag in der Hand von Ehefrau Aenni. Der Schrebergarten diente der Familie Litt aber wohl mehr als grüne Oase und nicht vorrangig zum Anbau von Obst und Gemüse.
An heißen Sommertagen boten der Garten und das nahegelegene Schreber-bad Erfrischung, in den kühleren Jahreszeiten ein willkommenes Ziel für Spaziergänge.

Auszüge aus Aenni Litts Tagebuch:

  1. April 1932: Morgens u. Nachm. im Garten, der hübsch in Ordnung u. auch gepflanzt ist; es fängt alles schön an zu wachsen.
  2. Mai 1932: Nachmittags nach dem Kaffee im Garten.
  3. Juni 1932: Mein Geburtstag. Rud.1Rudolf] lieb u. glücklich über meinen Geb. Nachm. im Garten, Sicks kamen gratulieren. Schöne Geschenke, liebe Briefe.
  4. Juni 1932: Abends haben Theo u. ich bei grosser Wärme in unseren Garten das Mitgebrachte gegessen, Bier dazu geholt! Garten begossen.
  5. Juli 1932: Lotte47 u. ich in der Ausstellung „Goethe in der Buchkunst der Welt“. Theo im Rektorat abgeholt, mit Auto heim. Nachm. Garten, sehr wann, Kaffee getrunken, abends auch noch dort gegessen, ich holte das Nötige zu Hause u. brachte Rud. zu Bett. Lotte blieb gleich dort; viele Mücken gab’s! u. Stiche.
  6. Juli 1932: Mit Lotte Schwimmen im Schreberbad, dann Garten. abends Vortrag v. Goerdeler48 über die Arbeitsdienstpflicht in der Aula anschliessend Zusammensein mit den Studenten im Thüringer Hof
  7. Juli 1932: 5 e Pf Johannisbeeren im Garten geerntet!
  8. Juli 1932: Nachm. mit Rad. eine gemütliche Stunde im Garten. Aufgeräumt!
  9. September 1932: Schwimmen mit R. im. Schreberbad, dann im Garten. Abends Th. u. ich bei Felsche!
  10. September 1932: Nachm. mit R. auf d. Kleinmesse u. im Garten. Brombeeren eingemacht.

Die genaue Lage des Litt’schen Schrebergartens (Garten Nr. 134) ist bekannt und mit Hilfe eines Planes vom Kleingartenverein „Dr. Schreber“, sowie den Mitgliederverzeichnissen des Schrebervereins aus den Jahren 1930 und 1933 sind die Gartennachbarn von Litts ermittelbar.

Garten 108: Kürschnermeister Konrad Italiander, Thomasiusstraße 18;
Garten 115: Uhrmachermeister Paul Horrmann, Schreberstraße 4;
Garten 116: Fleischermeister Albin Lattermann, Waldstraße 37;
Garten 132: Kaufmann im Werkzeughandel Wilhelm Stöcker, Promenaden-
straße 25;
Garten 133: städtischer Ingenieur Carl Dieckmann, Mendelssohnstraße 14;
Garten 135: Kaufmannswitwe Elsa Zahn, Waldstraße 3;
Garten 136: Witwe Sophie Künnecke, Harkortstraße 15 und
Garten 137: Handelsvertreter Rudolf Darr (im Vereinsvorstand), Poniatow-
skistraße 8.50
Der Garten Nummer 122 von Professor Sick befand sich nur eine Abteilung weiter.

Zeichnung als frisch gewählter Rector magnificus im Schrebergarten.

Im Brief vom 21. Juli 1931 bericht Litt seiner Frau zur gerade stattgefundenen Rektorwahl noch Einiges, erwähnt natürlich auch den Garten und porträtiert sich am Ende des Briefes als Rector magnificus. Universitätsarchiv Leipzig Theodor-Litt-Nachlass B2-1051

Abschließend noch ein Auszug aus einem Brief vom 21. Juli 1931, mit dem sich eine Brücke zum Beginn dieses Beitrages schlagen lässt. Litt berichtete seiner Frau zur gerade stattgefundenen Rektorwahl noch Einiges, erwähnt natürlich auch den Garten und porträtiert sich am Ende des Briefes als Rector magnificus: „… Heute Morgen im Kolleg gab es eine nicht enden wollende Trampel-Ovation, die wirklich von Herzen zu kommen schien. Selbstverständlich ist es unter allen Umständen wohltuend, sich vom allgemeinen Vertrauen getragen zu Ahlen…. Ich sass Sonntag und jeden Nachmittag stundenlang im Garten, in dem allerlei Neues munter und farbenprächtig blüht…“

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Theodor Litt — Eduard Spranger.
Philosophie und Pädagogik
in der geisteswissenschaftlichen Tradition
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2009