Prof. Dr. phil. Wilhelm Maximilian Wundt (16.08.1832 – 31.08.1920)
In Neckarau bei Mannheim wurde einer der größten deutschen Gelehrten der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geboren: Wilhelm Maximilian Wundt. Als Sohn eines Pfarrers hat er eine einsame Kindheit erlebt. Später besuchte er das Gymnasium in Heidelberg und entschloss sich Medizin zu studieren.
Sein erstes Jahr als Student verbrachte Wundt in Tübingen, wo sein Onkel, Friedrich Arnold (1803-1890), Professor für Anatomie und Physiologie war. Allerdings blieb er in Tübingen nur ein Jahr und kehrte dann nach Heidelberg zurück, wo er sein Studium beendete. Nachdem er sich für eine akademische Karriere entschlossen hatte, wurde er 1857 Privatdozent für Physiologie und 1864 außerordentlicher Professor für Anthropologie und medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg. Zwischen 1858 und 1865 war er Assistent von Hermann von Helmholtz (1821-1894) am Institut für Physiologie. Innerhalb dieser Zeit veröffentlichte er seine ersten zwei Bücher: „Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmungen“ (1862) und „Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele“ (1863). Sein berühmtestes Werk ist jedoch die „Grundzüge der physiologischen Psychologie“, die er 1874 herausbrachte, kurz bevor er Heidelberg verließ, um den Lehrstuhl für Induktive Philosophie an der Universität Zürich zu übernehmen. Ein Jahr später wurde Wundt nach Leipzig als Professor für Philosophie berufen. Diese Stelle behielt er bis zu seinem Ausscheiden 1917. Im Jahr 1879 gründete er das Labor für experimentelle Psychologie, das das erste Weltzentrum für die Ausbildung neuer Psychologen wurde, indem es Studenten aus vielen Ländern Europas und der ganzen Welt anzog. Auch gründete er 1883 eine der ersten psychologischen Zeitschriften der Welt – die „Philosophischen Studien“, später in „Psychologische Studien“ umbenannt. Zwischen 1900 und seinem Tod 1920, widmete er sich vor allem der Verwirklichung seines Projektes einer Völkerpsychologie, die er als eine notwendige Ergänzung der experimentellen oder individuellen Psychologie ansah. Deren Hauptziel war es, die „höheren psychischen Vorgänge“ zu analysieren. Dadurch trug er enorm zu der Entwicklung der psychologischen Forschung bei und wurde einer der Hauptbegründer der modernen wissenschaftlichen Psychologie.
Bevor wir die Frage der Aktualität seines Denkens beantworten können, ist es erforderlich, die in den Darlegungen und Interpretationen von Wundts Leben und Werk begangenen Fehler zu korrigieren, die bis heute eine neutrale Beurteilung seines Vermächtnisses verhindern. Der Kürze halber werden wir uns hier darauf beschränken, auf drei Hauptpunkte hinzuweisen: Seine Biographie, sein Projekt einer Völkerpsychologie und sein philosophisches System.Was den ersten Punkt betrifft, so gibt es bislang trotz aller Bemühungen keine befriedigende biographische Arbeit zu Wundt. Die beiden einzigen verfügbaren 67 Biographien – Meischner und Echsler (1980) und Lamberti (1985) – bringen viele Probleme mit sich. Die erste stellt trotz der ausführlichen Behandlung der primären Quellen ein von der marxistisch-leninistischen Ideologie verzerrtes Porträt Wundts dar. Ausgehend davon, dass jede intellektuelle Arbeit auf eine der beiden anerkannten Kategorien der Analyse zurückzuführen ist, nämlich des „Materialismus“ (positive Bedeutung) oder des „Idealismus“ (negative Bedeutung), stellen die Autoren fest, dass Wundts Werk auf einer unangemessenen Mischung dieser beiden Tendenzen beruht. Nur so seien die Widersprüche seiner Psychologie zu erklären. Die zweite Biographie leidet an einer ungenügenden Betrachtung der Quellen. Der Verfasser hat zwar neue und wichtige, auf die Heidelberger Zeit bezogene Daten vorgestellt, doch viele verfügbare Originaldokumente unerforscht gelassen, was ihn dazu geführt hat, in der Sekundärliteratur vorhandene Fehler zu wiederholen. Die Berichtigung soll hier eine doppelte sein. Zunächst ist Wundt niemals ein Verfechter des Materialismus gewesen, sondern dessen beharrlicher Kritiker. Was den Idealismus anbelangt, enthält sein Denken tatsächlich verschiedene Elemente der idealistischen Tradition – von Leibniz bis Hegel – bisher gibt es aber keine ausführliche Arbeit, die diesen komplexen Zusammenhang zwischen Wundt und dem deutschen Idealismus zeigt. Jede Aussage, die Wundt einfach als Idealist betrachtet, ohne dabei eine genauere Verknüpfung zu belegen, trägt zu keinem besseren Verständnis von Wundts Werk bei. Zweitens sind alle verfügbaren biographischen Quellen zu untersuchen, um die Ungenauigkeiten und Widersprüche in der Datierung bestimmter Ereignisse in Wundts Leben aufzulösen, vor allem was die Zeit vor seiner Ankunft in Leipzig angeht.
Bezüglich des zweiten, oben erwähnten Themas soll hier betont werden, dass in der Sekundärliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Völkerpsychologie in den Hintergrund getreten ist, wenn nicht ganz aufgegeben wurde, so dass die Psychologie Wundts einzig und allein als experimentelle Psychologie erscheint. Zwei Motive haben zu dieser Situation beigetragen. Erstens ist die Wundt-Rezeption in den USA durch seine Schüler geschehen, die in Leipzig studiert hatten und später ähnliche psychologische Labors in den amerikanischen Universitäten gründeten. Da seine Werke nicht gleichzeitig übersetzt worden waren, wurde Wundt ausschließlich als experimenteller Psychologe wahrgenommen.
Zweitens haben die in der ehemaligen DDR durchgeführten Wundt-Studien keine große Aufmerksamkeit auf die Völkerpsychologie gelenkt, die als „idealistische 68 Sünde“ der echten materialistischen, experimentellen Psychologie gegenüber galt. Die ausführliche und kollektive Interpretationsarbeit der mannigfachen Facetten seiner Völkerpsychologie hat gerade erst begonnen. Die dritte Lücke in der Sekundärliteratur betrifft die genaue Beziehung zwischen Wundts philosophischem Projekt und seiner Psychologie. Obwohl die Zeitgenossen Wundts viele Arbeiten seinem philosophischen System gewidmet haben, gibt es keine genügend tiefe Analyse von dessen Zusammenhang mit der Entwicklung seines Projekts einer wissenschaftlichen Psychologie. Außerdem gibt es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur ein einziges der Philosophie Wundts gewidmetes Buch (Arnold, 1980). Andererseits stellen die Studien, die die theoretischen Grundlagen seiner Psychologie analysieren, keine systematische Verknüpfung mit seinem philosophischen System dar. Die zeitgenössischen Wundt-Forscher haben wohl nicht bemerkt, dass nicht die Psychologie, sondern eben die Philosophie die zentrale Rolle in seinem Leben gespielt hat. Wundt war vor allem ein Philosoph, dessen letztes Ziel es war, ein auf
die empirischen Ergebnisse der Einzelwissenschaften gegründetes allgemeines metaphysisches System zu formulieren. Mit einem Wort: Eine Weltanschauung zu liefern (Wundt, 1914). In diesem Sinne ist seine Psychologie Teil eines umfangreicheren Projektes und kann nur im Rahmen dessen als Ganzes verstanden werden. Wer das nicht in Betrachtung zieht, wird nur die Hälfte der Geschichte begreifen. Daher muss die enge Beziehung zwischen Wundts Philosophie und seiner Psychologie in Zukunft stärker hervorgehoben werden.
Wie sieht es nun mit Wundts Aktualität aus? Wenn man die heutige Situation der
Psychologie betrachtet, fällt ihre enorme theoretische Dispersion und ihre problematische philosophische Begründung auf. Viele Psychologen, stolz auf die institutionelle und intellektuelle Autonomie ihrer Disziplin, halten die Philosophie für Vergangenheit und jede philosophische Diskussion als Zeitverschwendung. Folglich bleiben die empirischen Forschungsdaten in vielen Fällen ohne eine genügende theoretische Integration oder es werden naive, unreflektierte philosophische Ideen vorgetragen, die schon vor 200 Jahren widergelegt wurden. Wundts Denken ist daher insofern aktuell, als er gegen alle diese Probleme gekämpft hat. In seiner Schrift „Die Psychologie im Kampf ums Dasein“ (Wundt, 1913) warnte er vor den negativen Wirkungen einer Trennung zwischen Philosophie und Psychologie. Nur mit einer soliden philosophischen Begründung ihrer Prinzipien und Begriffe sei es der Psychologie möglich, Widersprüche und theoretische Naivität zu vermeiden.
Es bleibt dann die Frage nach der Zukunft der Wundt-Forschung. Wir sollen zuerst erwarten, dass sein Leben und Werk besser verstanden wird, um angemessener beurteilt werden zu können. Auch sollten die Psychologen bei all ihren professionellen Aktivitäten diejenigen nicht vergessen, die solche Aktivitäten direkt oder indirekt erst ermöglicht haben. In diesem Sinne wird uns Wundt noch lange als Anlass für unsere Reflektion dienen können.
Literatur
Saulo de Freitas Araujo: Wie aktuell ist Wilhelm Wundts Stellung zum LeibSeele Problem?
Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. 2006. In 12: 199-208
Saulo de Freitas Araujo: Wilhelm Wundt als Assistent von Hermann v. Helmholtz an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg: Berichtigende Bemerkungen. In: Regine Pfrepper (Hrg.) Medizin-, Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Festschrift für Ingrid Kästner zum 65. Geburtstag. Aachen 2007 (S. 185-193).
Alfred Arnold: Wilhelm Wundt – Sein philosophisches System. Berlin 1980.
Gerd Jüttemann (Hg.): Wilhelm Wundts anderes Erbe. Göttingen 2006.
Georg Lamberti: Wilhelm Maximilian Wundt (1832-1920). Bonn 1995.
Wolfram Meischner und Erhard Eschler: Wilhelm Wundt. Leipzig 1979.
Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. 6. Aufl. Leipzig 1908/1911.
Wilhelm Wundt: Die Psychologie im Kampf ums Dasein. Leipzig 1913.
Wilhelm Wundt: Sinnliche und übersinnliche Welt. Leipzig 1914.
Wilhelm Wundt: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1920.
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[wc_fa icon=“external-link-square“ margin_left=““ margin_right=““][/wc_fa] Wilhelm Wundt im historischen Vorlesungsverzeichnis
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