Die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli 1968
Am 30. Mai 1968 geschah das Unfassbare und Ungeglaubte: Um 9.58 Uhr zündeten 750 Kilo Sprengstoff und die Universitätskirche St. Pauli verwandelte sich in einen Trümmerberg.Zwischen den zwei Jubiläen, die die Universität Leipzig in der DDR 1959 und 1984 feierte, war damit ein Tiefstand der historischen Vergangenheitsbewertung erreicht. Kurze Zeit nach der Kirchensprengung wurden auch die inneren Strukturen der Hochschulen in der DDR mit der dritten Hochschulreform grundlegend verändert. Die Fakultäten und akademischen Wahlämter verschwanden, die Studiengänge wurden neu geordnet und gestrafft, sämtliche historischen Bezüge verschwanden aus dem Alltag der Hochschulen. Unter diesen Vorzeichen gewann der achtlose Umgang mit Traditionen und Geschichte, verkörpert durch die rabiate Zertrümmerung einer filigranen Architektur mit vielen religiösen Bezügen, einen zusätzlichen Symbolwert.
30. Mai 1968: Erst gab es eine Explosion, dann stürzte der 737 Jahre alte Kirchenbau in sich zusammen. Der Rauch war in ganz Leipzig zu sehen – das Ende der Universitätskirche St. Pauli. Auch für den Leipziger Christian Jonas war die Sprengung ein Schock.“
Christian Jonas – Zeitzeuge der St. Pauli-Sprengung. podcast0348 UAL
Was bedeutete diese Kirche am Augustusplatz für die Universität? War sie tatsächlich nur ein Gebäude, das der neuen Zeit im Wege stand?
Die Verbindung mit der Universität bestand nicht von Anfang an. Aus der reichen Großstadt Prag kommend, fanden die Leipziger Universitätsgründer die schmucklose, um 1231 errichtete Dominikanerkirche wohl wenig anziehend. Die ehemals Prager Magister und Scholaren, immerhin 415 Namen finden sich in der ersten Matrikel des Wintersemesters 1409, bevorzugten die größeren Innenstadtkirchen. Die Gründung der Universität fand am 2. Dezember 1409 im Refektorium des Thomasklosters statt und dieser Raum wird noch über 100 Jahre als Aula dienen. Erst um 1537 fanden die Universitätsversammlungen im Großen Kolleg, einem universitätseigenen Gebäude, statt. Die feierlichen Promotionen der höheren Fakultäten, der Theologen und der Mediziner, wurden dagegen in der Nikolaikirche durchgeführt.
Die Raumlage für den Vorlesungsbetrieb war ähnlich bescheiden, immer wieder fanden sich Klagen über den desolaten Zustand der Gebäude und den hohen finanziellen Aufwand zu ihrer Erhaltung. Unter ärmlichen Verhältnissen lebend, bot die Reformation und die vom Landesherrn in Aussicht gestellte Übertragung des Dominikanerklosters an die Universität eine phänomenale Chance, diesen Zuständen dauerhaft zu entkommen. Mit dem Rektor Caspar Borner nutzte die Universität diese Gelegenheit und verfolgte dieses Ziel auch weiter, als sie in heftigen Streit über die Zueignung des Klosterbesitzes mit dem Rat der Stadt geriet. Am 22. April 1544 wurde der Universität die Urkunde mit dem Besitztitel ausgestellt.
Die Universität übernahm die Gebäude, die in den letzten Jahren verlassen gelegen und geplündert worden waren, zunächst mit erheblichem Bauaufwand. Bisher hatte die Universität allenfalls über Streubesitz innerhalb der Stadtmauern verfügt – nun entstand ein Universitätscampus, der diesen Namen auch verdiente und daneben noch zahlreiche andere Annehmlichkeiten bot.
Neben dem für damalige Verhältnisse riesigen Bibliothekssaal, zwei Versammlungssälen (einem Sommer- und einem Winterrefektorium) vermittelt eine kurze Aufzählung der noch wichtigeren Wirtschaftsgebäude eine Vorstellung von der faktisch neu fundierten Universität: Klostergarten mit Krankenstube, Apothekergewölbe, Destillierhaus, Brauhaus, Schneiderei, Schusterei, Schweine-, Rinder- und Pferdeställe, Malzhaus, Backstube, Weinkeller, Bad, Küchentrakt.
Die ganze Anlage konnte nahezu unverändert für den Universitätsbetrieb genutzt werden – die Kirche erhielt neben ihrer sakralen Funktion, als Andachts- und Begräbnisraum, auch einen weltlichen Zweck. Von nun an fanden die festlichen Promotionsrituale der Fakultäten dort einen würdigen Rahmen.
Erst im 18. Jahrhundert deutete sich ein Wandel in der Benutzung des Kirchengebäudes an. Ebenso wie die Universität sich nach und nach von den letzten konfessionellen Schranken löste, entwickelte sie sich allmählich von einer geistlichen hin zu einer geistigen, von Staatsinteressen geprägten Institution.
Akademische Festakte wurden stärker als bisher für die Entfaltung weltlichen Pomps eingesetzt und nach der Einführung des akademischen Gottesdienstes im Jahre 1710 bestallte die Universität auch einen eigenen Universitätsmusikdirektor, der diese Zeremonien zu begleiten hatte. Dem Musikleben der Universität verhalf Johann Sebastian Bach zu ungeahntem Ruf, der von 1723 bis 1725 zahlreiche Werke im Auftrag der Universität komponierte und in der Paulinerkirche auch selbst aufführte. In der eigenen Universitätskirche verkehrten die gelehrten Korporationen mit dem Stadtrat zeremoniell auf Augenhöhe, wenn es darum ging, mit öffentlichen Festakten Regierungsantritte oder Professorenjubiläen bzw. Geburtstage oder Sterbefälle im Herrscherhaus oder von Universitätsangehörigen zu begehen und zu feiern.
Auch als Begräbnisstätte wurde die Kirche für Studenten und Professoren genutzt. Unter anderem fanden dort der erste Rektor Otto von Münsterberg, Caspar Borner und Joachim Camerarius sowie später Benedikt Carpzow ihre letzten Ruhestätten.
Diese lebendige Tradition und den Glücksumstand einer unzerstörten Universitätskirche in einer zerbombten Großstadt vor Augen, lässt sich die Vorgeschichte der Sprengung von 1968 nur als bewusster Affront und provozierter Bruch mit alten Traditionen deuten.
Zunächst hatte sich die Sanierung des seit 1943 teilzerstörten Universitätsareals am Augustusplatz über lange Jahre nach dem Krieg hingezogen. Für Baumaßnahmen, bis auf minimale Erhaltungsmaßnahmen, waren an den Zentralgebäuden der Universität keine Kapazitäten eingeplant. Staatliche Planungen verschoben etwaige Aufbauarbeiten gleich hinaus bis ins Jahr 1975.
Unter diesen Voraussetzungen verlangte die Universität im Vorfeld des Jubiläums von 1959 immer stärker nach einer Lösung der unbefriedigenden Verhältnisse am Augustusplatz.
Spätestens nach dem Universitätsjubiläum entwickelte sich auf politischer Ebene, vom Politbüro über die Bezirks- bis hinab zur Stadtleitung der SED, der Entschluss, das Areal am Karl-Marx-Platz vollständig zu beräumen und einen sozialistisch determinierten Neubau zu errichten. Denkmalschützerische oder konservatorische Aspekte wurden beiseite gewischt und die neue Architektur am Karl-Marx-Platz als Kulisse für Aufmärsche und Großdemonstrationen gewünscht.
Auch hier standen sich allerdings politische Ansprüche und bautechnologische Realität gegenüber – eine anfangs noch erwogene Verschiebung der Universitätskirche war schwierig und der geplante Universitätsneubau hätte einen erheblichen Teil der sächsischen Baubetriebe über Jahre hinweg gebunden. Dennoch kam es im Dezember 1967 zu einem Architektenwettbewerb, der im Ausschreibungstext einen Neubau favorisierte, ohne die Universitätskirche zu erwähnen. In der Bevölkerung, in der Sächsischen Landeskirche und auch innerhalb der Universität – nicht nur innerhalb der Theologischen Fakultät – häuften sich die Befürchtungen um einen Kirchenabriss.
Ende März 1968 lagen die Pläne der Architektenbüros vor – nur eine Rostocker Variante sah noch eine Integration der Kirche in den neuen Baukörper vor. Am 7. Mai 1968 wurde über die Planungsvorschläge im Politbüro der SED beraten. Einen Sieger im Wettbewerb gab es nicht, aber in der abschließenden Kombination zweier Planungsvarianten war ein Erhalt der historischen Bausubstanz nicht mehr vorgesehen. Nur einige repräsentative Kunstgegenstände sollten geborgen werden – soweit die Abbauarbeiten den Abriss nicht beeinträchtigten.
Am 16. Mai wurden die Parteien in der Baukommission der Leipziger Stadtverordnetenversammlung über die Planungen informiert. Einen Tag später fanden Sondersitzungen der Theologischen Fakultät und des akademischen Senates statt – der Dekan der Theologen, Ernst-Heinz Amberg, vertrat dort standhaft die Meinung seiner Fakultät, dass ein Abriss nicht in Frage komme. Auch der Ägyptologe und Vizepräsident der Sächsischen Akademie, Siegfried Morenz, engagierte sich öffentlich gegen die Kirchensprengung. Schriftlich protestierte der Historiker Max Steinmetz gegen die geplante Kirchensprengung.
Am 23. Mai 1968 jedoch billigte die Stadtverordnetenversammlung im Neuen Rathaus den Abriss – mit lediglich einer Gegenstimme, und selbst dieser eine Protest wurzelte in einer geheimdienstlichen Aktion des Staatsicherheitsdienstes. Am selben Tag fanden mittags bzw. abends die letzten evangelischen bzw. katholischen Gottesdienste statt. Danach wurde die Kirche verschlossen und gegen 22.00 Uhr begannen die Steinmetze bereits mit den ersten Abbrucharbeiten.
Unter chaotischen Verhältnissen, während riesige Lafettenbohrmaschinen Sprenglöcher meißelten, versuchten Denkmalpfleger und Archivare am 24. Mai die Bergungslisten abzugleichen. Weder Lagerplatz noch Personal oder Transportkapazität stand für die Bergung zur Verfügung – die Orgel kann nur, knapp bevor die Sprengladungen scharf gemacht werden, noch geräumt werden. Nicht alle Begräbnisstätten konnten geräumt werden, auch eine Entwidmung der Kirche fand nicht mehr statt.
Auf dem Augustusplatz kam es am 28. Mai zu Tumulten, mehrere Dutzend Menschen wurden verhaftet, Polizisten drängten die schweigende Menge unter Einsatz von Hunden und Gummiknüppeln ab.
Für den 30. Mai wurde in der Leipziger Volkszeitung die Sprengung öffentlich angekündigt und tatsächlich umgesetzt. Kurz vor 10 Uhr kam eine gewaltige Staubwolke aus dem Gebäude, die westliche Giebelwand sackte in sich zusammen, der Kirchturm stürzte in südlicher Richtung ein und nach einer kaum wahrnehmbaren Verzögerung fiel auch die östliche Giebelwand um.
Die Universität Leipzig wurde nach der Wende nicht nur mit einer maroden Bausubstanz am Augustusplatz konfrontiert, auch dem Massenandrang der Studierenden konnten die Hochschulbauten nicht mehr gerecht werden. Während der 1992 gegründete private Paulinerverein sich für einen möglichst originalgetreuen Wiederaufbau der Paulinerkirche einsetzte, wurde der Studienbetrieb von ganz anderen Sorgen wie Raummangel, verschlissenen Elektro- und Sanitärinstallationen, fehlender Brandschutztechnik und veralteter Vortragstechnik geprägt. Bereits 1994 lobte die Stadt Leipzig daher einen offenen Ideenwettbewerb für den Universitätskomplex am Augustusplatz aus. 1998, aus dem Gedenken an die 30 Jahre zurückliegende Kirchensprengung, erfolgten erste Überlegungen, die bald in eine öffentliche Diskussion um die bauliche Zukunft der Universität führen. Das Motto war zunächst ergebnisoffen: „Sanierung? Neubau? Was soll mit dem Universitätsgebäude am Augustusplatz geschehen?“ Schließlich wurden im Jahre 2001 die Meinungen und notwendigen Funktionalitäten in einem Auslobungstext „Bauvorhaben Universitätscampus“ zusammengebunden.
Aus den unterschiedlichen Anschauungen zum Neubau entwickelte sich rasch eine emotionale, polarisierende Debatte, die sich von der eigentlichen Bauplanung entfernte und unter den gegenläufigen Tendenzen „Restauration“ oder „Modernisierung“ zu schwankenden Mehrheiten in der Universität, in der Leipziger Bürgerschaft und in der Politik führt. Die komplizierten Verhältnisse bewirkten schließlich den Rücktritt des Rektors Volker Bigl (und seines Rektoratskollegiums) im Jahre 2003, als Zusagen der Staatsregierung für einen modernern Hochschulbau als gebrochen erachtet wurden.
Der Senat sprach sich darauf im März 2003 für eine Überarbeitung des bisherigen Architektenentwurfs aus, um auf dem Standort der ehemaligen Universitätskirche das Paulinum mit akademischer Aula und gottesdienstlichem Raum zu errichten. Ein gutes Jahr später wurde der Entwurf des niederländischen Architekten Erick van Egeraat von der Leipziger Jury prämiert, der ein modernes Hochschulgebäude mit einer Erinnerungsfunktion an die gesprengte Universitätskirche vereint. Im Juli 2005 erfolgte die Grundsteinlegung der neuen Mensa und im Jahre 2009 sollen die Neubauten bereits genutzt werden können.
Literatur:
- Füssler, Heinz (Hg.): Leipziger Universitätsbauten. Die Neubauten der Karl-Marx-Universität seit 1945 und die Geschichte der Universitätsgebäude, Leipzig 1961.
- Hütter, Elisabeth: Die Pauliner-Universitätskirche zu Leipzig. Geschichte und Bedeutung, Weimar 1993.
- Winter, Christian: Gewalt gegen Geschichte. Der Weg zur Sprengung der Universitätskirche Leipzig, 1998.
Mit einer Gedenkfeier im Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli erinnert die Universität Leipzig am 30. Mai um 18 Uhr an die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli vor 56 Jahren.