Erschossen in Moskau | Studentischer Widerstand: Zur Erinnerung an Herbert Belter.
Im Jahre 1955 kehrten, als ein Ergebnis des Besuchs von Konrad Adenauer in Moskau, auch drei ehemalige Studenten aus den Sowjetunion nach Deutschland zurück. Es waren keine Kriegsgefangene, auch hatten sie keine Verbrechen in der Sowjetunion verübt. Dennoch wurden sie am 20. Januar 1950 zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt.
Einer von ihnen bezahlte seine Ideale sogar mit dem Leben. Sein Name ist Herbert Belter. Herbert Belter wurde vor fast 70 Jahren am 21. Dezember 1929 in Greifswald geboren. Von 1936 bis 1945 besuchte er die Mittelschule in Rostock, durch das Kriegsende war es ihm unmöglich, das Abitur zu beenden. Im Oktober 1946 begann er an der Wirtschaftsschule in Rostock eine zweijährige Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten, anschließend fand er eine Stelle als Statistiker bei der Hafenverwaltung in Rostock. Als die Zeiten wieder besser wurden, will er ein Studium aufnehmen. Der einzige Weg führte ihn damals über die Vorstudienschule in Rostock, auf der er im Juli 1949 sein Abitur bestand.
Mit dem Neuaufbau nach dem Krieg erhoffte er sich, wie so viele andere, Verbesserungen hin zu einer demokratischen Welt, die er nur aus Berichten Dritter kannte. Als Studienwunsch gab er Volkswirtschaft und Gesellschaftswissenschaft an. Relativ schnell wurde sein Studienwunsch berücksichtigt und im Oktober 1949 erhielt er einen Studienplatz an der neu errichteten Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Damit begann er sein Studium in Leipzig in einer Zeit voller Umbrüche und Wirren.
Wenn sich auch langsam abzeichnet, welchen Weg die Universität Leipzig in den nächsten Jahren bis hin zur Karl-Marx-Universität Leipzig gehen würde, so ist doch noch vieles offen und bürgerliche Professoren konnten den Studenten ihre Lebenserfahrungen und politischen Ansichten mit auf den Weg geben. Dazu gehörten die Juristen Arthur Nikisch und Hans-Otto de Boor, die sich den neuen politischen Anforderungen verweigerten oder versuchten ihnen auszuweichen, wie bereits im Nationalsozialismus. Viele von ihnen waren bereits den Weg in den Westen gegangen, so die Philosophen Theodor Litt und Hans-Georg Gadamer oder die Historiker Johannes Kühn und Otto Vossler.
Für die meisten Studenten waren die Verhältnisse unter denen sie studieren mussten, jedoch nicht einfach mit einem Wechsel nach Westdeutschland zu quittieren. In der Nachkriegszeit und der Überfüllung mit Flüchtlingen und Umsiedlern war ein Studienplatz etwas besonderes, um dessentwillen man häufig persönliche Entbehrungen in Kauf nahm. Unter den harten Nachkriegsbedingungen gab es enorme Probleme, wenn man nur daran denkt, was es heißt, sich Unterkunft, Heizung, Strom und Verpflegung in einer zerstörten Stadt zu beschaffen.
Hinzu kamen noch die Verhältnisse an der zu zwei Dritteln zerstörten Universität: fehlende Räumlichkeiten für den Lehrbetrieb, ein geringer Bücherbestand und die mangelnde personelle Besetzung der Lehrstühle. Daraus erwuchs jedoch ein verbindender Faktor. Denn die meisten dieser Probleme waren von dem einzelnen Studenten nicht oder nur unzureichend zu bewältigen. Der Studentenrat besaß so eine wichtige integrative Funktion.
Seine Vertreter spielten eine entscheidende Rolle für die Alltagssorgen der Nachkriegsstudenten. Selbst wenn man in den Westteil Deutschlands hätte wechseln müssen, so waren dort die materiellen Probleme ähnlich. So darf man die drei Westzonen noch nicht mit der späteren Bundesrepublik vergleichen, in der ostdeutsche Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen wurden.
Die Leipziger Studenten beugten sich nicht nur den Alltagsproblemen, sondern auch dem politische Druck der Stalinisierungswellen. Ein öffentliches Aufbegehren oder Protest war nach der letzten großen Verhaftungswelle unter den Studenten 1948 kaum noch möglich.
Mit der Ausschaltung des demokratisch gewählten Studentenrates im November 1948, als der populäre Studentenvertreter Wolfgang Natonek vom russischen Geheimdienst verhaftet wurde, war auch die Zeit der öffentlichen Debatten endgültig vorbei. Das alles war dem frisch immatrikulierten Herbert Belter vielleicht noch nicht bewußt, bald jedoch wurde er mit dem Druck, den das System auf die Studenten ausübte bekannt. Dabei waren die Studenten in seinem Umkreis, wie er selbst, durchaus sozial engagiert.
Wenn auch die Empfehlungsschreiben dem Zweck der angestrebten Immatrikulation dienten, so war ein ausgeprägtes Interesse an Politik bereits vorhanden. Von den künftigen Eliten des Arbeiter- und-Bauernstaates erwartete man darüber hinaus den rückhaltlosen Einsatz für den neuen Staat, bis hin zur Selbstaufgabe. Immer wieder hörte man in dieser Zeit Klagen, sogar von den überzeugtesten Studentenfunktionären, das unter der Last der „gesellschaftspolitischen Arbeit“ ein Studium kaum noch zu absolvieren sei.
Mit diesen lästigen Formalien wurde zugleich ein starker Zwang zur Anpassung auf alle Andersdenkenden erzeugt. Zu den Äußerlichkeiten gehörten beispielsweise die flächendeckende Einführung der FDJ- und Studiengruppen, der massive Druck zum Eintritt in die FDJ und der Zwang zur Teilnahme an „gesellschaftlicher Arbeit“. Innerhalb von zwei Semestern stieg der Organisationsgrad der in der FDJ erfassten Studenten von 47% im Juli 1949, auf 90% im Oktober 1950.
Zu den Schritten der sozialistischen Machtergreifung an der Universität kam hinzu, das der bisher noch frei gewählte Studentenrat eine Domäne der FDJ wurde. Im Februar 1950 gehörten nach den letzten Studentenratswahlen 22 von 24 gewählten Studentenrats-Vertretern der FDJ an.
Soweit es ging, entzogen sich große Teile der Studentenschaft dieser Vereinnahmung, aber zugleich bewirkte die militante Indoktrinierung auch einen Gegendruck. Mit dem Verlangen nach Information über das Leben in der Westzone, über die tatsächlichen Verhältnissen in der Ostzone bzw. DDR entstand bald der Wunsch, eigene Berichte über die Ereignisse an der Universität Leipzig zu liefern und die Kommilitonen aufzuklären.
In kurzer Zeit konnte Herbert Belter einen Kreis von Gleichgesinnten um sich scharen, die gemeinsam Zeitereignisse diskutierten und auch Informationen an den amerikanischen Sender RIAS weitergaben. Zu seinen Freuden zählten beispielsweise Helmut du Mênil, Werner Gumpel und Siegfried Jenkner. Aus dem Kontakt mit dem RIAS in Berlin, zunächst wohl als private Informationsquelle gedacht, entstand mit den massenhaft verfügbaren Broschüren das Problem der Weitergabe: ein Netzwerk entwickelte sich, in dem Kommilitonen Broschüren an Freunde innerhalb ihrer Fakultäten weitergaben. Das eigene Denken wollte man sich ohnehin nicht verbieten lassen. Aber darf man das eine Organisation, eine strukturierte Gruppe nennen?
“Wir waren überhaupt keine Gruppe… ein paar Studenten haben sich in der Mensa beim Essen oder abends bei einer Veranstaltung getroffen, wie man so lebt und über die Zeiten schimpft… Gelegentlich sind wir nach Berlin gefahren, aus privaten Gründen, da hatte man von der ganzen Verwandtschaft eine lange Liste, was man aus West-Berlin alles mitbringen mußte,… da haben wir abgeklappert, wo man kostenlos Sachen bekommen konnte … British Information Centre, Maison de France, RIAS, Amerika-Haus, Gesamtdeutsches Referat des VDS [Verband Deutscher Studentenschaften] – da konnte man einfach reingehen…. das habe ich dann Belter gegeben und Belter hat wieder andere kennengelernt, Chemiker und Zahnmediziner… Das ist alles gewesen”, erinnert sich Siegfried Jenkner.
Aber die Resonanz, auf die die Freunde unter den Studenten, trotz aller Angst und allem öffentlichen Anpassungsdruck stießen, muss ermutigend gewesen sein. Denn die kritische Geisteshaltung der Intellektuellen ließ sich nicht so einfach ausschalten wie von den Machthabern erhofft, so konnte die CDU-Hochschulgruppe einen kleinen Erfolg im Dezember 1949 erzielen: eine von der FDJ ausgelegte Grußadresse zum 70. Geburtstag Stalins unterschrieben dank intensiver Gegenpropaganda weniger als die Hälfte der Studierenden.
Das nächste Debakel für FDJ und SED ereignete sich bei den Studentenratswahlen im Februar 1950. Sie wurden unter dem “Aspekt der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands” durchgeführt. Begleitet von Aufmärschen der FDJ und “agitatorischen Darbietungen” stilisierte man die Wahlen zu einem Sieg der “demokratischen Kräfte” hoch, obwohl der Anteil der ungültigen Stimmen und der Stimmen für CDU- und LDP-Kandidaten mit 48 % höher lag als der Stimmenanteil, der auf die SED entfiel (45 %). So fand dann die erste, konstituierende Sitzung des neugewählten Studentenrates in einem Leipziger Großbetrieb statt, wo man auf die Hilfe des Proletariats bei eventuellen Störversuchen von “Reaktionären” hoffen konnte.
Auf Belter muss das aber alles unbefriedigend gewirkt haben, er will einen größeren Personenkreis erreichen. Ende Juni 1950, kurz nach dem Beginn des Korea-Krieges, sah Belter eine Gelegenheit mit weiteren Kommilitonen offen zu sprechen. In der Wohnung von Karl Miertschischk berichtete er über seine Kontakte nach Berlin (West) und bittet um Unterstützung beim Verteilen der erhaltenen Broschüren. Kaum aus den Semesterferien zurück, will Belter mit einer Flugblattaktion gegen den geplanten Wahlbetrug bei den Volkskammerwahlen auf die neue, diesmal rote Diktatur aufmerksam machen.
Die Wahlen zur Volkskammer am 15. Oktober 1950 waren für die SED eine besonders sensible Angelegenheit, nicht nur, weil es die ersten Wahlen in der DDR überhaupt waren, sondern auch weil sie auch noch als Blockwahl der Nationalen Front durchgeführt wurden. Das bedeutete für die Wähler keine wirkliche Auswahl unter verschiedenen Kandidaten und Parteien, sondern lediglich die Bestätigung der aufgestellten Kandidaten der Nationalen Front, in der die SED überdurchschnittlich stark vertreten war.
Überall wurden deshalb Propagandakampagnen initiiert. An der Universität startete die FDJ mit einem Aufruf “10 Tage Kampf und Organisierung des Sieges der Liste des demokratischen Deutschlands”, in der man vom 5. bis 15. Oktober die Studenten zur Wahl der Einheitsliste gewinnen wollte. Die geplante Gegenaktion von Belter endete jedoch in einem Fiasko. In den Vernehmungsprotokollen Belters durch die Staatssicherheit liest es sich so:
“Am Abend des 4. Oktober begaben sich mein Freund Helmut du Mênil und ich auf die Straße und verklebten 10 rote Flugblätter an die Litfaßsäulen in der Nähe des Bahnhofs, des Nordplatzes und der Rosa-Luxemburg-Straße. Außerdem warfen wir von den kleinen Ergänzungszetteln etwa 100 Stück auf die Straße. Dann begaben wir uns auf den Weg nach Hause, wo wir verhaftet wurden.”
Während Helmut du Mênil, der in Leipzig angemeldet war und sich ausweisen konnte, aus der nächtlichen Polizeikontrolle frei davonkommt, nahm man den unbekannten Belter mit auf die Wache. Dort fanden sich bei ihm weitere suspekte Gegenstände: ein Brief aus Westberlin und Westgeld. Am folgenden Morgen führte die Polizei eine Wohnungsdurchsuchung bei ihm durch – und entdeckte dort Flugblätter und Schriften, die für seine sofortige Verhaftung, und wenig später auch seiner Kommilitonen ausreichten. Die deutsche Polizei verhaftet neun Studenten und einen Handwerker, verhört sie und liefert sie schließlich entgegen den gesetzlichen Bestimmungen an den russischen Geheimdienst aus.
Damit konnte die Polizei einen „Erfolg“ gegenüber der misstrauischen russischen Besatzungsmacht verbuchen. Unter dem Stalinschen Terrorsystem war den Russen die Beute willkommen, ja es gab sogar ein gewisses Plan-Soll für die zu verhaftenden „Reaktionäre“ in den Zeiten des sich „verschärfenden Klassenkampfes“. Bereits kurz nach ihrer Verhaftung wurde den Beteiligten von den Russen ein kurzer Prozess gemacht. Die Verhandlung vor dem sowjetischen Militärtribunal war nicht mehr als eine Farce. Am 20. Januar 1950, nach dem zweiten Verhandlungstag, waren die Urteile gefällt. Herbert Belter wurde als Rädelsführer zum Tode verurteilt, die Urteilsbegründung lautet:
„Belter wurde dafür verurteilt, das er im Juni 1950 bei einem Aufenthalt in Westberlin Verbindung zu Löwenthal, einem Mitarbeiter der Rundfunkstation RIAS, aufnahm, von dem er die Aufgabe erhielt, Spionageinformation zu sammeln und eine Gruppe zur Verbreitung antisowjetischer und antidemokratischer Literatur sowie von Flugblättern in der Ostzone Deutschlands zu gründen.“
Die anderen Mitangeklagten Otto Bachmann, Ehrhardt Becker, Peter Eberle, Rolf Grünberger, Werner Gumpel, Günter Herrmann, Siegfried Jenkner und Karl Miertschischk erhalten, bis auf Hans-Dieter Scharf (10 Jahre) alle das gleiche Urteil: 25 Jahre Zwangsarbeit. Aus den russischen Vernehmungsprotokollen gehen die Motive ihre Handelns klar hervor, Belter selbst sagte vor Gericht: „Ich habe mich illegal betätigt, weil ich unzufrieden war mit der Situation an der Leipziger Universität, wir hatten keine Gewissensfreiheit, keine Redefreiheit und keine Pressefreiheit.“
Nach Aussagen der Überlebenden kann zunächst kaum einer der Verurteilten fassen, welche Strafe über sie verhangen wird. Allzu unwirklich erscheint ihnen das in russischer Haft Erlebte und die Urteile. Doch es war durchaus real. Nach dem Urteil wurde Herbert Belter sofort von den anderen isoliert und wahrscheinlich per Bahn nach Moskau gebracht. Wie Herbert Belter, verschwanden auch die anderen neun Verurteilten scheinbar spurlos, ihre Angehörigen bleiben über ihr Schicksal im Unklaren. Nachforschungen der Eltern und Geschwister bei deutschen und russischen Behörden verliefen im Sande.
Den Überlebenden in den russischen Zwangsarbeitslagern wurde erstmals im Jahre 1953 ein brieflicher Kontakt mit ihren Angehörigen erlaubt. Auf offenen Feldpostkarten durften sie ein zensiertes Lebenszeichen senden. Die Hoffnung fei zu kommen, begann sich erst nach Stalins Tod wieder zu regen. Im Dezember 1953 kehrten die ersten nach Hause zurück. Werner Gumpel, Siegfried Jenkner und Karl Miertschischk allerdings blieben noch bis in das Jahr 1955 als „Zivilinternierte des letzten Krieges“ in den Straflagern.
Über das weitere Schicksal Belters bestand noch jahrelange Ungewissheit. Der Mantel des Schweigens lüftete sich erst nach 1990, als die russischen Archive geöffnet und eine offizielle Rehabilitierung ausgesprochen wurde. Dort fand sich ein Gnadengesuch vom März 1951, indem er bat „… ihm im Hinblick auf seine Jugend und da er durch sein Handeln der Sowjetunion keinen Schaden zugefügt habe, das Leben zu erhalten.“ Es half nichts. Die Militärstaatsanwaltschaft wies es wegen der „besonderen Gefährlichkeit der verübten Straftat“ zurück.
Am 28. April 1951 wurde Herbert Belter in Moskau insgeheim erschossen. Heute befindet sich seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof für Schwerverbrecher in Moskau-Donskoj, in einem Massengrab zusammen mit der Asche der Hingerichteten des Jahres 1951.
Dr. Gerald Wiemers / Dr. Jens Blecher
Literatur:
- Wiemers, Gerald/ Blecher, Jens: Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945-1955. zweite Auflage, Beucha 1998.
- Kröning, Waldemar/ Müller, Klaus-Dieter: Anpassung – Widerstand – Verfolgung. Hochschule und Studenten in der SBZ und DDR. 1945-1961. Köln 1994.
Belter-Dialoge
Die Belter-Dialoge finden einmal jährlich an der Leipziger Universität statt, um Aspekte des Terrors an ostdeutschen Bildungseinrichtungen sichtbar zu machen. Herbert Belter wurde 1951 zum Tode verurteilt und in Moskau erschossen. Sein Name steht symbolisch für Widerstand und Zivilcourage in der ehemaligen DDR. Die Belter-Dialoge sollen Mahnung sein, sich für die Demokratie zu engagieren, damit sich in unserem Land Diktaturen nicht wiederholen. Belter-Dialoge