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Zum Geburtstag von Christoph Hein

Christoph Hein studierte Ende der sechziger Jahre in Leipzig. Am 8. April feiert der Schriftsteller seinen Geburtstag.

Christoph Hein und Hans Mayer im Gespräch, Leipzig im April 1991, UAL FS N04766

Und in Leipzig gab es eine Abendmensa. Ich kenne keine andere Universitätsstadt mit einer solchen Einrichtung, und ich weiß nicht, ob sie heute noch existiert. In der Abendmensa stellte man sich nicht nach seinem Essen an, sondern setzte sich wie in einer Gaststätte an den Tisch, wurde von einem alten Kellner bedient, der stets missmutig war, seinen Missmut aber leicht zu einem großen Zorn steigern konnte, wenn ein junger Fuchs, ein Neuling, beim Bestellen den Namen des Gerichts nannte und nicht nur die davor stehende Zahl ansagte. Wir liebten diesen alten Kellner, nicht nur, weil er uns Köstlichkeiten servierte, die ein Studentenportemonnaie eigentlich überstiegen und lediglich ein paar Groschen kosteten, nicht nur, weil er sich damit abgefunden hatte, von seinen Gästen höchst selten ein winziges Trinkgeld zu bekommen, wir liebten ihn seiner verlässlichen Griesgrämigkeit wegen.

Christoph Hein, Nachdenken über Leipzig, Journal der Universität Leipzig 1/2010

Christoph Hein wird am 8. April 1944 im schlesischen Heinzendorf geboren. Nach der Flucht aus Schlesien siedelt sich die Pfarrersfamilie an der Mulde in Bad Düben an. Als Pfarrerskind durfte er nicht auf ein DDR-Gymnasium, der Vierzehnjährige musste 1958 die DDR verlassen und ging als Internatsschüler auf ein humanistisches Gymnasiums in Westberlin. Am Tag des Mauerbaus, dem 13. August 1961, hielt sich Christoph Hein illegal in Dresden auf und musste in der DDR bleiben. Von 1961 bis 1967 arbeitete Hein als Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist und Schauspieler. 1964 holte er sein Abitur nach. Zwischen 1967 und 1971 studiert Christoph Hein Philosophie und Logik in Berlin und Leipzig. In Leipzig verteilte er Flugblätter gegen den Einmarsch der osteuropäischen Armeen in Prag, Hein und seine Familie wurde von der Staatssicherheit überwacht.


„Der Staatssicherheit fehlte in meinem Fall der unzweifelhafte Beweis, und um ihn zu bekommen, wurde unsere Studentenwohnung verwanzt. Monatelang wurden meine Gespräche mit meiner Frau und den Freunden aufgezeichnet und notiert, wie ich viele Jahre später nachlesen konnte.“, schreibt er in Nachdenken über Leipzig.

In der Universitätsstadt Leipzig heiratete Hein, seine Kinder wurden in Leipzig geboren. Nach dem Studium wird Christoph Hein Dramaturg an der Volksbühne Berlin unter der Leitung von Benno Besson (1922-2006), 1974 erhielt er eine Festanstellung als Hausautor. Ab 1979 ist er als freier Schriftsteller tätig.

Über seine Leipziger Studienzeit schreibt er:

Der eigentlich zentrale Ort des Studiums war für mich der Hauptbahnhof und die vom Ring eingefasste kleine Innenstadt. In einem der Cafés dieses kleinen Zirkels fand man ganz gewiss den gesuchten Freund. Und zur mitternächtlichen Stunde trafen sich am Hauptbahnhof, diesem wunderbar prachtvollen Bauwerk, dieser Kathedrale einer neuen Industrie und Kommunikation, einer die Welt revolutionierenden Erfindung, dem für mich schönsten Bahnhof Deutschlands, dort trafen sich zur Geisterstunde nicht nur alle Straßenbahnen zu einem verkehrstechnisch höchst originellen Stelldichein.

Christoph Hein, Nachdenken über Leipzig, Journal der Universität Leipzig 1/2010


Literaturtipp: Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass ist 2011 im Suhrkamp Verlag erschienen. Rüdiger Stolzenburg, 59 Jahre alt, hat als Dozent für Kulturwissenschaft an der Leipziger Universität noch immer eine halbe Stelle. Seit 15 Jahren wird ihm die Ernennung zum Akademischen Rat versprochen. Er schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Stolzenburg ist ein prototypisches Mitglied des „geisteswissenschaftlichen Prekariats“. Frieder Schlösser, Leiter des Instituts für Kulturwissenschaft, befürchtet unter den Sparzwängen, dass sein Institut geschlossen wird. Stolzenburg wird wohl nie eine Chance auf Vollanstellung haben. Das Finanzamt zweifelt an den geringen Einkünften des Akademikers. Aufgrund der Überprüfung seiner früheren Steuererklärungen fordert das Finanzamt wegen eines Berechnungsfehlers in den letzten zehn Jahren eine Steuernachzahlung von über 11.000 Euro ein. Ein unmöglicher Betrag für Stolzenburg. Ebenso aussichtlos ist Rüdiger Stolzenburgs Nachlass-Projekt, die Werkausgabe des vergessenen barocken Bühnenkünstlers und Kartografen Friedrich Wilhelm Weisskern, für die er keinen Verlag findet noch Drittmittel beschaffen kann. Das angeblich sensationelle neue Material aus dem Nachlass von Weiskern erweist sich auch noch als Fälschung. Stolzenburgs Beziehungen zur Welt sind allesamt prekär.

Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Suhrkamp, Berlin 2011.

Bild oben: Hans Mayer (1907 – 2001), Literaturwissenschaftler und Jurist, war von 1948 bis 1963 Inhaber des Lehrstuhls für Literaturwissenschaft, 1992 Ehrendoktor, 2001 Ehrenbürger der Stadt Leipzig.