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Von den Nazis angegriffen, von den Sowjets ermordet | Erinnerung an Helmut Sonnenschein

Als der Mathematiker Helmut Sonnenschein 1935 mit einer von der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig als sehr gut beurteilten Arbeit aus dem Gebiet der Abbildungs- und Funktionslehre promovierte, dankte er seinen jüdischen Lehrern: dem am 21. August 1933 verstorbenen Leon Lichtenstein und dem nach Kalkutta emigrierten Friedrich Levi. Das war zu dieser Zeit nicht selbstverständlich.

Mut gehörte auch dazu, sich für eine angemessene Ehrung von Lichtenstein in Leipzig einzusetzen.

Die Universität, das erfahren wir aus einem Brief von Sonnenschein an den Mathematiker Paul Koebe, hat am 30. August 1933 „Herrn Professor Lichtenstein das letzte Geleit gegeben. Der Rektor und eine größere Zahl Professoren der Fakultät waren zugegen. Herr Geheimrat [Otto] Hölder hielt einen wissenschaftlichen Nachruf, der das Schaffen des Heimgegangenen eingehend würdigte, und Professor [Ludwig] Weickmann eine warme und herzliche Gedenkrede.“ Die Witwe des Verstorbenen, Frau Dr. Szandla (Stefanie) Lichtenstein, geb. Rosenblat, dankte Sonnenschein für all seine Mühe und charakterisierte das Verhältnis von ihm zu ihrem Mann mit den Worten „zwei Männer, die sich gegenseitig schätzten und liebten“. In einer letzten Verfügung, die von Friedrich Levi vollzogen werden sollte, hat Lichtenstein den jungen Freund und Kollegen bedacht. Der Mathematiker Levi nahm noch aus Indien im Jahre 1947 den Kontakt zu Sonnenschein auf und berichtete über den Lebensweg seiner Familie, den Mord an seiner 84-jährigen Mutter und älteren Schwester durch das NS-Regime.

Dennoch resümierte er: „Glauben Sie mir, lieber Dr. Sonnenschein, meine alte Liebe zu Deutschland hat sich nicht in Hass verwandelt…“

Sonnenschein wurde am 28. Mai 1906 in Leipzig geboren. Am Nikolai-Gymnasium legte er 1925 die Reifeprüfung ab und studierte anschließend Mathematik, Physik und Astronomie an der Universität Leipzig. Seit 1931 arbeitete er als Hilfsassistent am Mathematischen Institut. Dort lernte er auch seine spätere Frau Hildegard Lorenz kennen. Neben Mathematik studierten beide auch Physik bei Heisenberg und Hund. Als Assistent am Mathematischen Institut schloss er 1935 mit der Promotion zum Dr. phil. ab. Seiner freundschaftlichen Beziehungen zu den jüdischen Professoren Friedrich Levi und zu dem bereits in die USA emigrierten Aurel Winter wegen wurde er vom NS-Studentenbund angegriffen.

Da bot sich ihm mit der Einberufung zur Wehrmacht im Jahre 1936 die Möglichkeit, den Anfeindungen zu entkommen, zumal er bei der Wehrmacht als Wissenschaftler in der Entwicklung und im Versuchsdienst weiterarbeiten konnte. 1942–43 forschte er zunächst für das Heereswaffenamt und später leitete er eine technische Einheit für Ballistik in Peenemünde. Das bedeutete die Mitarbeit am V 2-Projekt. Als hochspezialisierter Fachmann geriet er 1945 in amerikanische Gefangenschaft, nach seiner Entlassung wurde Sonnenschein Arbeitsleiter (ab 1947) im Wissenschaftlich-technischen Büro „Geräte“ im sowjetischen Sektor Berlin/Karlshorst – unter der direkten Aufsicht eines sowjetischen Waffeningenieurs.

Nach der Auflösung der Abteilung ging er anschließend als Mathematiker und Ingenieur zum Konstruktionsbüro Leuna und wurde schließlich Ende 1948 bei der AGFA Wolfen angestellt.

Dr. Helmut Sonnenschein wurde am 26. April 1951 wegen Spionage durch ein sowjetisches Militärtribunal zum Tode verurteilt.

Nach falschen Anschuldigungen wurde Helmut Sonnenschein am 16. November 1950 in Naumburg verhaftet, am 26. April 1951 durch ein sowjetisches Militärgericht zum Tod durch Erschießen verurteilt und am 4. Juli 1951 hingerichtet. Seiner Frau Hildegard Sonnenschein wurde auf ihre wiederholten Nachfragen zum Schicksal ihres Mannes ausweichende und unklare Antwort erteilt. Erst im Jahre 1990 gestand die Botschaft der UdSSR in einem offiziellen Schreiben ein, das Dr. Helmut Sonnenschein am 26. April 1951 wegen Spionage durch ein sowjetisches Militärtribunal zum Tode verurteilt wurde.

Eine Rehabilitierung lehnte man damals jedoch ab, da „die Verurteilung Sonnenscheins wegen Spionage gerechtfertigt ist“. Schließlich setzte jedoch unter den veränderten Bedingungen und durch die Auflösung der Sowjetunion ein Umdenken ein: Am 22. März 1994 wurde seine Unschuld offiziell von russischer Seite bestätigt und die vollständige Rehabilitierung durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation postum erklärt.

Gerald Wiemers, Jens Blecher