Die Paulinerkirche und die Politik
Mit dem Frühjahr 1968 begann für die Universitaet Leipzig eine Zeit des Erinnerns– war sie doch 15 Jahre zuvor in Karl-Marx-Universität Leipzig umbenannt worden. Auf dem Wege zur sozialistischen Universität hatte sie in den Jahren seit 1953 viele Etappenziele erreicht. In den Universitätschroniken finden sich alle damaligen Erfolge (und alle an Leipziger Hochschullehrer verliehenen staatlichen Auszeichnungen) penibel aufgelistet.
Vor der Sprengung, Mai 1968
Zu den wichtigen Meilensteinen rechneten das neue Universitätsstatut mit dem Bekenntnis zum sozialistischen Aufbau und zur Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins unter den Hochschulangehörigen (1953), die Erhöhung des Anteils der Arbeiter-und-Bauernkinder unter den Studenten (1956 zählten dazu 54 Prozent der Erstimmatrikulierten) oder die im Dezember 1957 vom Akademischen Senat verabschiedete „Grundsatzerklärung zur sozialistischen Entwicklung der Karl-Marx-Universität Leipzig“.
Auch die Stimmung der breiten Masse schien von der sozialistischen Ideologie bestimmt: 1959 wurde die sozialistische Namensweihe für Kinder von Universitätsangehörigen durchgeführt, Fackelzüge zu den Jahrestagen der DDR-Gründung versammelten jeweils mehrere tausend Studenten und schließlich engagierten sich 1967 rund 14.000 Universitätsangehörige in der Vorbereitung des Volksentscheids für die sozialistische Verfassung der DDR.
Im Frühjahr 1968 konnte die Universitätszeitung (das Organ der SED-Kreisleitung der Karl-Marx-Universität) über neuerliche Erfolge beim Studium des Marxismus berichten, die anstehenden Hochschulreformen begrüßen und die Festvorbereitungen zum 150. Geburtstag von Karl Marx in gebührender Weise begleiten. Die eigenen Erfolge vor Augen, wurde auch von der brutalen Unterdrückung der Studentenproteste in Westdeutschland berichtet – ein Bild von Rudi Dutschke fand sogar seinen Platz auf der Titelseite der Universitätszeitung (UZ, 18.4.1968). Nur von den politischen Planungen und Entscheidungen im eigenen Land erfuhr der Leser kaum etwas.
Ansatzlos erschien daher eine Meldung in der Universitätszeitung vom 24.5.1968, daß neue Universitätsgebäude an die Stelle des alten Universitätsareals am Augustusplatz treten würden.
Die Entschließungen des Akademischen Senats vom 17. Mai und der Stadtverordnetenversammlung vom 24. Mai 1968 über den geplanten Neubau – verbunden mit der Kirchensprengung – wurden in Auszügen und kommentarlos abgedruckt. Die gleiche Prozedur wiederholte sich am 30. Mai, dem nächsten Erscheinungstag der Universitätszeitung. Unter der Überschrift „Freudige Zustimmung zum Projekt des Universitätsneubaues“ wurden einige zustimmende Wortmeldungen veröffentlicht. Lediglich Rektor Ernst Werner (1920-1993) lässt in seiner auszugsweise wiedergegebenen Rede vom 24.5.1968 etwas von der Spannung jener Tage in Leipzig erahnen. Als Einziger berichtete Werner von „Diskussionen“ aus seiner Studentenzeit von 1946 über den künftigen Weg des Nachkriegsdeutschlands. Damals hätte sich niemand, „in den kühnsten Träumen“ nicht, die Universität „so gigantisch, so zukunftsträchtig“ vorstellen können.
Dabei war die Universität – weder 1946 noch 1968 – längst nicht jene heterogene Masse, voller Einheitssozialisten, wie die offizielle Propaganda glauben machen wollte. Nach anderen Meinungen wurde jedoch in der sozialistischen Öffentlichkeit weder gefragt, noch waren sie erwünscht. Das alte Kirchengebäude war dabei nicht das eigentliche Problem, vielmehr sollten die Menschen, die sich darin versammelten und frei diskutierten, aus dem Zentrum der Stadt verschwinden. Die Kirchensprengung sollte einen endgültigen Schlussstrich unter die Auseinandersetzungen mit christlichen Kreisen ziehen, die in Leipzig seit langem schwelten. Als positiver Nebeneffekt, so schien es wohl der SED, verschwände ein architektonisches Symbol, das in seiner zeitlosen Kontinuität weit über die DDR hinausreichte.
Der christliche Widerstand gegen das ostdeutsche, sozialistische Herrschaftsmodell reichte in Leipzig und besonders an der Universität bis in die Anfänge der sowjetischen Besatzungszeit zurück. Eine christliche Jugendarbeit war dort von Anfang an nicht erwünscht. Zum Eklat kam es bereits beim I. Parlament der FDJ im Juni 1946. Von der sowjetischen Besatzungsmacht wurde den christlichen Jugendkreisen nach erregten Diskussionen eine „gewisse Autonomie“ zugestanden, aber ohne deutliche Klärung dieses Begriffes. Der Leipziger Theologiestudent Werner Ihmels (1926-1949) musste ein Jahr später in einem Gespräch mit Erich Honecker dessen Auslegung schmerzlich erfahren: für Honecker bedeutete das nur die Freiheit Gottesdienste zu besuchen, alle anderen Formen der Jugendarbeit seien Angelegenheit der FDJ. Alle Einwendungen und Erwiderungen von Ihmels blieben ergebnislos. So zog er persönliche Konsequenzen und suchte Berichte über die unhaltbare Lage der kirchlichen Jugendarbeit ins Ausland zu bringen. Plötzlich und unerwartet erfolgte die Verhaftung im September 1947.
Gemeinsam mit Ihmels wurden Horst Krüger (*1931), ein damals 16-jähriger Oberschüler und Wolfgang Weinoldt (*1923), Immatrikulationsreferent im Studentenrat (CDU), verhaftet. Durch die sowjetische Anklage wurde eine konspirative Tätigkeit und Spionage konstruiert. Am 2. Dezember 1947 wurden sie von einem Sowjetischen Militärtribunal verurteilt: Ihmels und Krüger bekamen je 25, Weinoldt 15 Jahre Arbeitslager. Sie blieben zwar in Deutschland und wurden nicht nach Russland verbracht, aber die Bedingungen in der Bautzener Haftanstalt waren berüchtigt, die Sterblichkeitsrate unter den Häftlingen war extrem hoch. Ihmels und Krüger erkrankten beide an Tbc.
Werner Ihmels starb am 25. Juni 1949. Die beiden anderen kamen erst nach Jahren frei. Schon kurz nach der DDR-Gründung geriet die christliche Jugendarbeit in das Visier der neuen Staatsmacht. Nach dem Beschluss zum “Aufbau des Sozialismus” (1952 auf der 2. Parteikonferenz der SED gefasst) orientierte sich das Hochschulstudium stärker auf die Erziehung neuer marxistischer Eliten. Gleichzeitig begann ein Kreuzzug gegen den “inneren Feind”, den man in der Jungen Gemeinde bzw. den Studentengemeinden vermutete. Der “Kulturkampf” erreichte im April und Mai 1953 mit Hetzartikeln in der “Jungen Welt”, dem Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend, seinen Höhepunkt.
An der Universität Leipzig folgte eine Welle von Disziplinarverfahren gegen Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde. Mindestens 39 Studierende wurden einem FDJ-Verfahren wegen Zugehörigkeit zur Evangelischen Studentengemeinde bzw. zur Jungen Gemeinde unterworfen. Im Mai 1953 endeten die meisten Verfahren mit dem Ausschluss aus der FDJ, einige auch mit dem Antrag auf Exmatrikulation. Eine gewisse Entspannung der Lage erfolgte erst nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 – danach wurden die laufenden Verfahren an der Universität eingestellt und Re-Immatrikulationen durch den Rektor der Karl-Marx-Universität vorgenommen. Mit der Volkserhebung 1956 in Ungarn war die Zeit des ausgleichenden Umgangs mit der kirchlichen Jugendarbeit wieder vorbei: 1957 folgte ein politischer Schauprozess gegen den evangelischen Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler (1915–2003) und seine studentische Anhängerschar. An der Karl-Marx-Universität Leipzig wurden 25 Studenten in Disziplinarverfahren gemaßregelt. Außerdem verhandelte das Bezirksgericht Leipzig im Dezember 1957 noch gegen 3 weitere Studenten, die wegen angeblicher Spionage zu Haftstrafen verurteilt wurden.
Verweise, Exmatrikulationen, Relegationen und schließlich Verhaftungen waren die Mittel, um die christliche Jugendkultur zu unterdrücken. Den Betroffenen blieb häufig nur das demütigende öffentliche Abschwören oder die Fortsetzung des Studiums in der Bundesrepublik Deutschland. Die beabsichtigte und durchgeführte Kirchensprengung zeigte jedoch, dass das undemokratische und kulturschänderische Vorgehen der DDR-Staatsmacht ein erhebliches Widerstandspotential freilegte und beförderte. Bereits vom März 1968 datiert ein Schreiben des Theologiestudenten Nikolaus Krause (*1944). Gemeinsam mit 102 weiteren Kommilitonen lehnte er den gerüchteweise bekannt gewordenen Kirchenabriss entschieden ab. Seine vorgetragene Bitte um ein offenes Gespräch wurde nicht beantwortet, vielmehr wanderte der Brief durch die Behörden: von der Stadt, über die Kreisleitung wahrscheinlich bis zur Bezirksleitung der SED. Ein gutes halbes Jahr später, im September 1968, wurde der Initiator Krause wegen „Staatsverleumdung“ gemeinsam mit weiteren Studenten der Theologie verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Kirchensprengung wird tatsächlich öffentlich, entgegen der bisherigen Verschwiegenheitspolitik, für die Morgenstunden des 30. Mai 1968 angekündigt. Nach dieser Bekanntgabe versammelt sich täglich eine größere Menschenmenge vor der Universitätskirche.
Fast 100 Leipziger Bürger werden in dieser kurzen Zeit festgenommen – von der Volkspolizei „zugeführt“ – und einige davon sogar verurteilt. In der Stadtverwaltung werden bereits kurz nach der Sprengung Untersuchungen angestellt, die sich sowohl gegen eigene Mitarbeiter (vom Bauamt über das Verkehrsamt bis hin zur Denkmalpflege), aber auch gegen die Universität und das Verhalten der gesamten Theologischen Fakultät richten. Insbesondere der Dekan Ernst-Heinz Amberg (*1927) war immer wieder gegen die Kirchensprengung eingetreten, er hatte auf schwierigem Terrain die Interessen der Fakultät, der Studierenden und der Landeskirche öffentlich zu vertreten.
Selbst auf nichtöffentliche Protestbriefe, wie sie beispielsweise der Kunsthistoriker an der Universität und Direktor des Leipziger Bildermuseums Johannes Jahn (1892-1976) als „DDR-Bürger“ und nicht in seiner „Angestelltenfunktion“, an höhere Behörden geschickt hatte, konnten Strafmaßnahmen folgen. Jahn wurde im Mai 1968 zur Demission gezwungen, ein gegen ihn angestrebtes Disziplinarverfahren hatte sich damit erledigt. Mehr Glück hatte dagegen der Historiker Max Steinmetz (1912-1990), der ebenfalls privat und schriftlich beim Rat der Stadt Leipzig (jedoch beim Referat für Kirchenfragen) seine Einwände gegen die Sprengung erhoben hatte. „Alle Gründe der Geschichte sprechen für eine Erhaltung und Pflege des Gebäudes, das am Karl-Marx-Platz die älteren Jahrhunderte würdig vertritt. Nichts spricht ernstlich für einen Abriß.“ Seine Daten werden, wie die der rund 500 anderen schriftlich Protestierenden, erfasst, weiter passiert den meisten Bürgern jedoch nichts.
Alle rationalen und emotionalen Gründe, die für einen Erhalt der Kirche sprachen, wurden von Anfang an jedoch bewusst ignoriert – den Leipzigern sollte klar gemacht werden, wer im Lande das Sagen hat. Gegenüber dem DDR-Staat wurde von den DDR-Bürgern Gehorsam verlangt oder wenigstens Anpassung und Schweigen erwartet.
Dennoch gab es weiterhin Mutige, besonders unter den Studenten, die nicht bereit waren, sich mundtot machen zu lassen. Einen der letzten Höhepunkte des studentischen Widerstandes in der DDR stellte die mutige Aktion von mehreren Studenten dar, die am 20. Juni 1968, bei der Abendveranstaltung zum internationalen Bachwettbewerb, ein Plakat mit Forderung nach Wiederaufbau der Universitätskirche enthüllten. Durch einen zeitgesteuerten Mechanismus wurde das Plakat enthüllt – die Staatssicherheit war ratlos, der internationale Skandal perfekt. Die Widerstandsaktion kam aus einer Richtung, mit der niemand gerechnet hatte – fast drei Jahre benötigte der Staatssicherheitsdienst, um einen Beteiligten zu finden und zu verurteilen. Organisiert und durchgeführt hatte den waghalsigen Plan eine Gruppe von fünf Physikern, von denen zwei kurz darauf aus der DDR flohen: Stefan Welzk, Harald Fritzsch, die Brüder Dietrich und Eckhard Koch sowie Rudolf Treumann. Der Frühsommer 1968 brachte im Osten noch die Hoffnung auf einen reformfähigen Sozialismus in Prag hervor – und wiederum wurden alle Träume durch brutalen Gewalteinsatz beseitigt. Erst gut 20 Jahre später erfüllten sich mit dem friedlichen Machtwechsel in der DDR, ausgelöst durch die sowjetische Perestrojka, die Wünsche nach einer freien, demokratischen Gesellschaftsordnung. Der studentische Widerstand in der DDR hat seinen Beitrag dazu geleistet – seine Akteure verdienen für ihren persönlichen Mut und die Verteidigung menschlicher Ideale den Respekt und die Anerkennung der nachfolgenden Generationen.
Von Jens Blecher.
Literaturhinweise: Winter, Christian: Gewalt gegen Geschichte. Der Weg zur Sprengung der Universitätskirche Leipzig, Leipzig 1998. Zwahr, Hartmut: Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und „Prager Frühling“ Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970, Bonn 2007. Universitätsarchiv Leipzig, Nachlass Max Steinmetz