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Osterspaziergang

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche

Durch des Frühlings holden belebenden Blick,

Im Tale grünet Hoffnungsglück;

Der alte Winter, in seiner Schwäche,

Zog sich in rauhe Berge zurück.

Von dort her sendet er, fliehend, nur

Ohnmächtige Schauer körnigen Eises

In Streifen über die grünende Flur;

Aber die Sonne duldet kein Weißes,

Überall regt sich Bildung und Streben,

Alles will sie mit Farbe beleben;

Doch an Blumen fehlt’s im Revier,

Sie nimmt geputzte Menschen dafür.

Kehre dich um von diesen Höhen

Nach der Stadt zurück zu sehen.

Aus dem hohlen finstern Tor

Dringt ein buntes Gewimmel hervor.

Jeder sonnt sich heute so gern.

Sie feiern die Auferstehung des Herrn,

Denn sie sind selber auferstanden,

Aus niedriger Häuser dumpfer Gemächern,

Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,

Aus der Straßen quetschender Enge,

Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

Sind sie alle ans Licht gebracht.

Sieh nur, sieh! Wie behend sich die Menge

Durch die Gärten und Felder zerschlägt,

Wie der Fluss, in Breit‘ und Länge,

So manchen lustigen Nachen bewegt,

Und bis zum Sinken überladen

Entfernt sich dieser letzte Kahn.

Selbst von des Berges fernen Pfaden

Blinken und farbige Kleider an.

Ich höre schon des Dorfes Getümmel,

Hier ist des Volkes wahrer Himmel,

Zufrieden jauchzet groß und klein:

Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.

Johann Wlfgang Goethe als Student, um 1765/66. Gemälde von Johann Adam Kern (1750-1781).

Johann Wolfgang Goethe ( 28. August 1749 –  22. März 1832) immatrikuliert sich am 19.10.1765 als Student der Jurisprudenz an der Universität Leipzig (bis zum 28. August 1768).