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Ilse Neumann. Kindheit und Jugend in Leipzig 1903 – 1925 | I. Wo wir wohnten.

Villa Tillmanns im Leipziger Waldstrassenviertel.
Villa Tillmanns im Leipziger Waldstrassenviertel. LC.

Die Waldstraße im Nordwesten der Stadt Leipzig hatte ihren Namen zu Recht. Und sie heißt auch heute noch so. Sie führte ausserhalb des Ringwalls ein Stück parallel zur Alten Elster und zum alten Meßplatz, dem heutigen Sportforum am Elsterbecken, zunächst durch ein Wohnviertel und dann in das Rosental, dorthin, wo der breit angelegte Park in den Auenwald übergeht. In einem Eckhaus an einer der Querstraßen der vorderen Waldstraße bin ich am 28.September 1903 als zweite Tochter des Dr. Richard Graul und seiner Frau Margarete, geborener Tillmanns zur Welt gekommen. Das Haus gibt es noch heute. Es ist mit einem Türmchen versehen, im Stil des endenden vorigen Jahrhunderts gebaut, und wir wohnten im obersten Stockwerk. Auf jemandes Arm sehe ich am Fenster abends das ferne Lichtergefunkel des Meßplatzes.

Dort wurde zweimal im Jahr die Kleinmesse gehalten mit Buden und Karussells.

Dort wurde zweimal im Jahr die Kleinmesse gehalten mit Buden und Karussells. Deutlicher hat sich mir ein anderes nächtliches Ereignis eingeprägt, als ich kaum drei Jahre alt war. Auf dem Arm unsrer Köchin merke ich, noch schlaftrunken, aber erstaunt, daß man mir über mein Nachthemd mein rotgepunktetes Tageskleid angezogen hat. Meine Schwester Margot, zwei Jahre älter als ich, sieht mich über die Schulter groß und ängstlich an. Wo bringt man uns hin? Die Eltern sind ausgegangen. Hin- und Herrufen im Treppenhaus, am Telefon im Flur ein fremder Mann in Uniform, rauchige Luft.! Im untersten Stockwerk des Hauses brennt es! Man winkt uns: wir könnten oben bleiben. Dann sind die Eltern da. Schließlich sitze ich wach und zufrieden auf dem Schoß meiner Mutter im unbeleuchteten Kinderzimmer. Und da geschieht erst das Unheimliche jener Nacht: durch das unverhangene Fenster sehe ich aus dem grellhellen Dachzimmer des gegenüberliegenden Hauses im Fensterrahmen die furcht erregenden schwarzen Umrisse‘ zweier Menschen, die auf unser Haus blicken. Es muß kurze Zeit später gewesen sein, daß ich still im Flur unserer Wohnung stehe und meine Schwester bewundre. Obwohl es Alltag ist, hat man sie ganz in weiß gekleidet. Sie soll dem König  – bei seinem Besuch im Kunstgewerbe – Museum als Tochter des Direktors einen Maiglöckchenstrauß überreichen. Man hat sie ein Verschen gelehrt: „Ich bin klein, lieber König, du sollst glücklich sein!“

Unserem Kinderzimmer war ein überdachter Balkon angeschlossen. Übermütig schleppten wir einmal unsere Spielsachen hinaus. Ich entsinne mich eines Holzpferdes, eines Seemanns aus blauem Stoff und eines Püppchens Ursi. Wir halten sie an der Balkonbrüstung hoch, u:Jm sie dem uns gegenüber in der Querstraße wohnenden Ehepaar, dem Historiker Alfred Doren und seiner Frau, Bekannten unsrer Eltern, zu zeigen. Sie winken uns lachend zu. Damit erlischt die Waldstraße für mich‘, denn Ende 1907 haben wir diese Wohnung verlassen. Das Raus in der Waldstraße hatte keinen Garten. Wir beiden Kinder sind darum oft in den Garten der Großeltern Tillmanns gebracht worden. Sie wohnten in der südlich gelegenen Wächterstraße. Von der Waldstraße führte der Weg dahin über den belebten Ranstädter Steinweg hinweg, entlang der Stillen Elster, an Schrebergärten vorbei.

Dort überfiel uns jedes Mal der süßliche Geruch einer nahen, wohl chemischen Fabrik. Dann ging es durch den Johannapark zum Musikviertel, der vornehmsten Wohngegend Leipzigs. Wir wurden in einem hochbeinigen Kindersportwagen gefahren. Dem Reichsgericht seitlich gegenüber stand die Villa der Großeltern, um 1899 im italienischen Stil gebaut, mit Vorbauten an den vier Ecken, mit Balkonen und Erkern und einem auffallenden Kachelsims unter dem flachen Dach. Hoch oben eine Fahnenstange, die sich der Großvater Tillmanns vom Holz aus Bismarcks Sachsenwald erbeten hatte.

Im Volksmund hieß dieses prächtige Gebäude „die Kaffeemühle“.

Im Volksmund hieß dieses prächtige Gebäude „die Kaffeemühle“. Für uns Kinder war es die „Wächterstraße“ schlechthin, das zweite Zuhause, wenn es eine Reise der Eltern oder die Krankheit eines der Geschwister verlangte. Es war auch der Ort frohen Zusammenseins mit Cousinen und Vettern, mit Tanten und Onkeln, unter dem Patriarchat der geliehten Großeltern. Davon soll noch die Rede sein. Doch erst muß ich die neue Wohnung meiner Eltern vorstellen. Genau dem Alten Theater gegenüber, am Tröndlinring, der nördlichen Wallpromenade, zwischem dem Hotel Fürstenhof“ und einem hohen Geschäftshaus stand noch ein altes Patrizierhaus. Um 1930 wurde es samt seinem verwilderten Garten zu einem völlig neumodischen Messe – Haus umgebaut. Das Alte Theater wurde im zweiten Weltkrieg zerstört.

Der Tröndlinring hat seinen Namen nach dem Oberbürgermeister Tröndlin behalten. Damals trennte ein kleines Rondell mit einem Brunnen das Haus Tröndlinring Nummer Neun von der Fahrstraße. Im Brunnenbecken stand kerzengerade eine nackte weibliche Figur, die eine Schale am Munde hielt. Am Haus gab es eine holzgedrechselte Eingangstür und an der östlichen Seite einen Torweg, der auf den Hof zu den Stallungen führte. Im dritten und letzten Stockwerk bewohnten wir acht geräumige Zimmer mit reichlichem Zubehör. Ein langer dunkler Korridor trennte die vorderen südwärts gelegenen Zimmer von den hinteren Nordzimmern.

Es war eine stattliche altmodische Wohnung, mit Kachelöfen beheizbar und noch ohne elektrisches Licht. Nur in einigen Räumen, in den Wohnstuben, in der Küche, im Badezimmer, gab es Gasbeleuchtung. Nicht in den Schlafzimmern, nicht auf dem Flur, auch nicht in dem großen Arbeitszimmer des Vaters. Bei Dunkelwerden holte das Stubenmädchen aus der Lampenkammer die blankgeputzten Petroleumlampen. Uns Kindern leuchtete eine Kerze, die unter einer Glasglocke brannte, in die Betten. Von den vorderen Südzimmern, dem Zinmer unserer Mutter, dem Eßzimmer, dem Arbeitszimmer, dem Salon und schließlich dem Kinderschlafzimmer neben der Eingangstür hatte man eine weite Aussicht zur alten Innenstadt hin. Da sah man das alte Theater und auf dem ehemaligen Wall die Promenade mit ihren Lindenbäumen. Weiterhin fiel der Blick auf anliegende Plätze und Häuserreihen bis hin zur alten Matthäikirche auf erhöhtem Grund. Ja, die Matthäikirche! Mit dem Dachreiterturm auf dem breiten Kirchendach schloß sich für uns der Horizont. In der Kirche selbst sind wir nie gewesen.

Matthaikirche
Die Leipziger Matthaikirche, 1912. Kennen Sie die Kirche noch?

 

Für mich als Kind wohnte der liebe Gott im Himmel, aber über dem Matthäikirchturm.

Wir gehörten wie der Großvater Tillmanns zur neuen Reformierten Kirche, u die neben dem Hotel Fürstenhof am Tröndlinring stand. Für mich als Kind wohnte der liebe Gott im Himmel, aber über dem Matthäikirchturm. Im zweiten Weltkrieg wurde die Matthäikirche zerstört. Im Jahre 1943 bin ich mit meinen alten Eltern noch an der Ruine gewesen. Da wuchsen Weidenröschen und junges Birkengrün bereits zwischen den Trümmern. Später wurde sie weggewalzt. In ihren Fundamenten fand man bei späteren Ausgrabungen Hinweise auf die älteste Siedlungsstätte der Stadt Leipzig. Zu den hinteren Räumen unserer Wohnung gehörten die Schlafräume der Eltern, das Zimmer der Dienstmädchen, die Küche, die Kammern. Auch unser Kinderwohnzimmer lag nach Norden, vergrößert durch ein abgegrenztes Stück Korridor.

Vom Fenster sahen wir über den Hof und die seitlichen Stallungen in den Garten. Und dieser Garten war ein echtes Kinderparadies. Er war noch ein letztes Stück von dem bekannten Löhrgarten aus dem frühen 19.Jahrhundert, etwas verwildert, mit Kieswegen, Rasenstücken, Büschen, Lauben und hohen Bäumen. Die Pappel am Eingang ragte zur Höhe des Hauses, eine mächtige Eibe verdeckte die Sicht zu einem Nebengebäude. Es gab eine Linde, Magnolien und Obstbäume, deren holzige Früchte nie ausreiften, und üppige Flieder- und Goldregenbüsche. Es gab einen kleinen stets verschlossenen Pavillon, der winters die Gartenmöbel beherbergte. Ja, es gab sogar im hintersten Gartenteil, der uns, den Bewohnern des dritten Stockwerks zugeeignet war, eine große Wippe und einen Barren auf rostigem Gestänge. Um den Garten schlossen sich an allen drei Seiten die Häuser der umliegenden Straßen mit ihrer Kehrseite an. „Drüben , das . war die fremde Welt, die wir beim Streifen durch die Gebüsche erkundeten.

Ein enger Nachbargarten, an dessen Gitter im Sommer Stachelbeeren reiften, ein Mietshaus mit vielen Fenstern, ein altes Backhaus, aus dem es dann und wann nach Brot duftete – das war die westliche Seite. Auf der östlichen stieß der Hof einer Handelsschule der Löhrstraße an den Garten. Ein lebhaft besuchter Kindergarten der Inneren Mission schloß sich ihm an. Durch ein Loch im Holzzaun konnten wir das Treiben ärmlich gekleideter Kleinkinder beobachten. Und weiter ragten hohe, dicht bewohnte Mietshäuser über die Büsche und Bäume. Da waren die Balkone stets mit Wäsche behangen. Allein gelassene Kinder, die wir arm nannten, riefen von dort gelegentlich zu uns hinüber oder warfen Abfall über den Zaun. Die Katzen jener Häuser versammelten sich nachts in unserem Garten zu einem Stelldichein. ‚Vie fürchtete ich ihr J.aulen! Und schließlich grenzte der hinterste Teil des Gartens wieder an ein weiteres kleines Stück des ehemaligen Löhrgartens, darin ein vornehmes dreigeschossiges Wohnhaus stand. Die Stallungen des Grundstücks, die sich dem gepflasterten Hof seitlich anschlossen, standen leer bis auf die Zeit, da eines Tages das Pferd einer Fischfirma für eine Weile eine Box bezog.

-Der dazu gehörige „Fischkutscher“ hauste neben dem Stall zu ebener Erde in einer kümmerlichen Kammer der Hausmannswohnung. Von oben aus unserem Kinderzimmerfenster konnten wir morgens zusehen, wenn er seine Rosinante striegelte und anspannte und dann mit leerem Wagen durch den Torweg rollte, um abends wieder zurückzukommen. Im Garten waren wir Kinder im Älterwerden uns selbst überlassen. Hier konnte man spielen, toben, sich schmutzig machen. Vor dem Haus, auf der Straße zu spielen, war ganz und gar ausgeschlossen. Es war schon ein Wagnis, beim Versteckspiel einmal durch den Torweg und durchs Haus zu laufen. Auch das war uns nicht erlaubt: im Herbst an Leipzigs „Tauch’schem Jahrmarkt“ teilzunehmen. Da verkleideten sich die Kinder und zogen durch die Straßen. Am Matthäikirchhof fand richtiges Indianergetümmel statt. Mit uns im Garten spielten zwei jüngere Jungen der Familie, die unter uns wohnte. Manchmal schloß sich eine ältere Hausmannstochter an, später ein pfiffiger Hausmannssohn. Wir nahmen den ganzen Garten für unsere Spiele in Beschlag. Sei es, daß wir mit einem kleinen Leiterwagen als Pferde oder als Kutscher durch die Gegend stoben, sei es, daß das „Mutter und Kind‘ Spiel im Gange war. Dazu wurden in den Kies und unter die Büsche Grundrisse von Wohnungen gezeichnet.

Auch „Himmelhuppen“ und Reifenspiele waren beliebt. Ich kann mich freilich nicht entsinnen, unsre Mutter oder gar unsern Vater je in diesem Garten behaglich sitzen gesehen zu haben, wie es im Garten der Wächterstraße durchaus sonntags zur Teestunde der Fall war. Nur die Bewohner der ersten und zweiten Etage besaßen eine efeuumrankte Laube, wo sie ab und zu bei nur schönstem Wetter ihren Tee oder Kaffee tranken. Dann trollten wir uns abseits. Unvergessen bleibt mir da der alte Geheimrat Wach, ein berühmter Jurist der Universität, der mit seiner Tochter im ersten Stockwerk des Hauses wohnte. Er winkt mich gönnerhaft heran. Ich bin, schon schulpflichtig, als Indianerhäuptling verkleidet, und bekomme von ihm e1ne Waffel überreicht. Ließ es die Vlitterung nicht zu, im Garten zuspielen, dann wurde regelmäßig mit dem Kinderfräulein spazieren gegangen. Im Winter liefen wir nach dem Mittagessen dann wohl auch gern mal auf der Promenade rings um die innere Stadt. Meist aber ging es ins Rosental. Es war nur wenige Straßen westlich vom Tröndlinring – 6 – entfernt.

 

Vom Dammweg aus, an einem großen Gartenrestaurant vorbei, gelangte man zum Rosental-Teich an der „Großen Wiese“. Im Winter war er schnell zugefroren und wir lernten unsre ersten, von Margot so gefürchteten Schlittschuhkünste darauf. Über die“Große Wiese“ gelangte man zur „Großen Eiche“ und weiter in den hohen Wald bis zur langen Waldstraße hin. Dort begann das „wilde Rosental“, wo man im Frühjahr Schneeglöckchen und Himmelschlüssel finden konnte. Ganz weiter hinten im Auenwald aber ragte der Scherbelberg empor, ein Hügelchen auf bewachsenem Müll, die höchste Erhebung in Leipzigs Norden. Von hier aus blickte man auf den Vorort Gohlis. Wir bestiegen den Aussichtsturm erstmalig mit unserem Vater. Aber das muß schon eine „Partie“ gewesen sein, so nannte unser Vater jeden längeren Spaziergang. Vorerst kamen wir nicht so weit. Und die Geschichten, die das Fräulein auf diesen Spaziergängen erzählte, auch die Märchen, die unsre Mutter uns abends oft vorlas, sie siedelten sich mir alle im Rosental an, im „wilden Rosental“. Und dessen Weite schien mir damals unermeßlich.

 

Ilse Neumann, Kindheit und Jugend in Leipzig. I. Wo wir wohnten.

 

 

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