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II. Wer wir waren

Unsere Wohnung im Tröndlinring wurde mir eigentlich erst, richtig deutlich und vertraut, als ein Ereignis besonderer Art eintrat: nämlich die Geburt unseres Bruders Heinz. Ich war fünf Jahre alt, meine Schwester Margot bald acht, als der Stammhalter der Familie erschien. Unsre Mutter hatte uns beide zu den Vorbereitungen der Wäscheaussteuer des Babys mit herangezogen. Wir waren stolz, mit der Mutter ein Geheimnis zu haben.

Das „Wolkenschiff“, das der Mutter angeblich ein kleines Kind bringen sollte, muß uns nicht sonderlich beschäftigt haben. Wir bleiben, als es soweit ist , brav im verschlossenen Kinderzimmer‘, wissen, daß ein uns fremder Arzt mit dem Vater allein im Eßzimmer zu Mittag ißt – zum Nachtisch gibt es Sagoauflauf mit Himbeersaft -, und daß eine große weißbeschürzte Kinderfrau die Mutter versorgt, die das kleine Kind natürlich im Bett erwarten muß. Laut mütterlichem Tagebuch frage ich die Kinderfrau später, ob sie die kleinen Kinder mache.

Und dann dürfen wir Schwestern schließlich ganz leise in Mutters Schlafzimmer kommen. Da liegt das Brüderchen winzig und schlafend in seinem Korb – wagen. Die kleinen Tüten, die am Wagen hängen, habe der „Klapperstorch“ mitgebracht, erklärt die Kinderfrau. Für uns Schwestern sind Näschereien darin, für das Fräulein, die Köchin, das Stubenmädchen Geld. Das hat die Mami gemacht, durchfährt es mich. Wir verstehen, daß die Mutter und das Brüderchen Ruhe haben müssen, und daß wir mit dem „Fräulein“ eine Weile in die „Wächterstraße“ ziehen sollen. Als wir wieder kommen, ist das Brüderchen schon ein wenig gewachsen und lebhafter geworden. Wir verfolgen genau, wie unsre Mutter es im Kinderzimmer badet und wickelt und füttert. Wir versorgen unsre Puppen nach den gleichen Regeln.

Das Brüderchen hat eine kräftige Stimme. Icn ahme sein Schreien nach, einmal für mein Puppenkind, das andre Mal in geänderter Tonlage für meiner Schwester Puppenkind. Wir liebten ihn neidlos, den kleinen Bruder, und billigten ihm jede Vorrangstellung zu. Er war ein drolliges Kind mit reinem grossen Kopf, dem dichten kastanienbraunen Haar und den braunen Augen. „Bübele“ nannte ihn unser Vater, so wie ihn seine Mama genannt haben mag. Am Fensterbrett seines Arbeitszimmers ließ er ihm einen sicheren Platz einrichten, und da saß unser Heinz schon, kaum dreijährig, und schaute stundenlang auf die Straße hinunter. Was gibt es da aber auch alles zu erleben! Drüben am Theater stehen bei Wind und Wetter einige Droschken auf Abruf . In der Wartezeit bekommen die Pferde ihren Futtersack vorgebunden und eine Decke übergeworfen.

Der Kutscher auf dem Hock steckt sich ein Pfeifehen an oder schläft. Nahe unserm Haus begegnen sich zwei Straßenbahnlinien. die vom Tröndlinring und die aus der nordwärts führenden Seiten- , der Pfaffendorferatyaße. Da muß die Elektrische am Rondell vor unserem Haus halten, damit der Schaffner mit einem Eisenstab erst die Weiche stellt. Hinten auf dem Fleischerplatz üben die Feuerwehrwagen. Aufregend, wenn Alarm gegeben ist, die Pferde schnellstens angespannt werden, die Feuerwehrleute auf die Wagen springen und heftig die Klöppel an den Glocken schwingend, losfahren. Und abends kommt der Laternenmann und zündet mit einer langen Stange die Gaslaternen an der Promenade an. Bruder Heinz nahm die Welt vor allem mit den Ohren auf. Er konnte großartig alle je gehörten Geräusche wiedergeben. Noch bis in seine Schulzeit hinein war sein wichtigstes Spiel: „Elektrische“.

Er steht am Fensterbrett, eine Tretklingel unter sich, ein Stück Holz als Steuer in der Hand, hinter sich zwei Reihen Stühle. Und dann zischt, pfeift, quietscht und rumpelt es los. Der Mund verzieht sich nach allen Richtungen. Wehe, wenn wir Schwestern versuchen, den Schaffner in ein Gespräch zu verwickeln. Wir können am erzeugten Geräusch erraten, ob der Straßenbahnfahrer die „D“, die „G“ oder gar die „K“ durch die echogebende Promenadenstraße steuert. ~it dem Dasein des kleinen Bruders muß mir erst so recht deutlich das Bewußtsein gekommen sein, daß wir Grauls eine FamLlie waren. Natürlich gehörten dazu am Rande auch die Köchin, das Stubenmädchen und das Kinderfräulein. Die Jugendlichen heute können sich schwer eine Vorstellung machen, in welchen Graden von Abstand die einzelnen Mitglieder mit_ einander lebten. Und erst recht nicht, daß gegebener Abstand nichts aussagt über die gegenseitige innere Verbundenheit. Wir Kinder sahen unsere Eltern als höhere Wesen und bei aller Vertrautheit nicht etwa als Kameraden an. Ihre Welt und unsere Welt waren zwei völlig verschiedene Sphären, die jede ihre eigenen Gesetze hatte. Meine Schwester wünschte sich vorzeitig, eine Erwachsene zu sein. Sie wollte unsere Mutter im Alter einholen. Ich nicht. Denn hatte das Erwachsensein nicht manches Unbequene? Freilich, man wird als „Große“ nicht mehr so früh ins Bett geschickt ..

Aber kann man in den langen Röcken richtig rennen? Und wenn meine Mutter oder eine ihrer Schwestern vor dem Spiegel ihre breitrandigen, oft mit Blumen geschmückten Hüte mittels einer langen spitzen Hutnadel auf der aufgebauschten Haartracht befestigen und dabei den Kopf ruckten – so ganz sicher war ich mir lange Zeit nicht, ob das den Erwachsenen nicht sehr weh tat. Ich liebte dann doch mehr meine Hüte, die ein Gummiband unterm Kinn festhielt. Unsre Mutter kam mir wie eine gute Fee vor. Im Haus schien alles von ihr auszugehen. Das Kinderfräulein versorgte uns, unsre Mutter war dennoch gegenwärtig. Traurig, wenn sie verreist war! Sie strahlte eine natürliche Herzlichkeit aus und konnte doch auch streng sein und strafen, ohne daß es verletzte. Unsere Mutter war schön. Und ich liebte es, ihr zusehen zu dürfen, wenn sie sich für eine größere Gesellschaft, etwa den „Gewandhausball „, ankleidete. Das Wort „Schönheit“ spielte überhaupt eine gewisse Rolle bei uns zu Haus.

Was schön war, mußte das nicht auch gut sein? Und schien das nicht irgendwie unser Vater zu wissen? Er war zehn Jahre älter als unsere Mutter. Nach einem bewegten Junggesellenleben in Frankfurt a. Main, in Wien, in Berlin, hatte er mit dem Amt des Direktors des kleinen Leipziger Kunstgewerbemuseums bald in die Familie Tillmanns geheiratet. Unsre Mutter stammte aus reichem Hause. Sie hatte es zeitlebens schwer, mit dem Gehalt eines städtischen höheren Beamten auszukommen .

Denn was ein großbürgerlich eingerichteter Haushalt für einen Aufwand verlangte, das ahnte unser Vater wohl nur. Er, mit den großzügigen Gesten eines Künstlers, mit seinen vielfältigen wissenschaftlichen Interessen und häufig auf Reisen, er kümmerte sich um nichts, was den Haushalt anbetraf. Es schien mir eine ausgemachte Sache zu sein, daß nur die Hausfrau gewissenhaft abends an ihrem Schreibtisch sitzen muß, um jede Geldausgabe, auch die von der Köchin getätigten, in ihre dicken Diarien einzutragen. Unser Vater stand weiter von uns entfernt als unsere Mutter. Er mischte sich nie in irgendwelche erzieherischen Belange ein. Und dennoch beeindruckte uns seine seltenere Gegenwart nachhaltig. Er sprach zu uns humorvoll mit leiser Stimme. Er hatte die Angewohnheit/ beim Gehen vor sich hin zu pfiffeln. Gelegentlich trällerte er uns irgendeine Operettenmelodie vor oder er deklamierte Sätze aus klassischen Dramen und Gedichten mit Pathos. Wir waren jedesmal von neuem entzückt.

Oder er zeichnete mit schneller, sicherer Hand kleine bewegte Szenen aus unserm oder unsrer Umgebung Leben. Seine Welt hatte etwas mit den Bildern zu tun, die reichlich an den Wänden unsrer vielen Zimmer hingen und auch dann und wann ausgewechselt wurden. Im Kinderwohnzimmer waren breite bunte Friese eines englischen Kinderbuchmalers an den Wänden angebracht: lustig verständlich galop~erten da Pferde mit zünftigen Reitern, fuhren Galeschen, sprangen Hunde, spielten Kinder. Aber schon im Kinderschlafzimmer erzählten die Bilder Dinge der Erwachsenen, die ich eifrig betrachtete. Zeitweise hing über ineinem Bett ein großer bunter Seemann Druck von Tizians „Zinsgroschen“, später Menzels Zeichnung des „Vater Unser 11 , schon, als ich das Gebet. noch nicht kannte. Im väterlichen Schlafzimmer ängstigte mich B:öcklins „Heiliger Hain“ und die „Musizierenden Engel“ Van Dyks. Für die wertvollen Originale im Salon, meist Landschaften impressionistischer Künstler, hatte ich damals noch nicht viel übrig. Nur das große Portrait meiner Schwester in langem weißen Kleid, mit einem Käppchen auf den blonden Locken und einem Apfel in den Händen, das gefiel mir gut. Ich erwähne heute diese Bilder, denn die meisten wurden im zweiten Weltkrieg ausgelagert und verbrannten. Als mein Vater das Buch „Deutsche Kunst in „Wort und Farbe“ schreibt, werden große Bilderblöcke vom Verlag E.A. Seemann ins Haus gebracht. Ich darf sie mir ansehen. Ganz vorsichtig blättre ich um und besehe mir glücklich die Bilder. Ich lege Zettel zwischen die einzelnen Blätter, damit meine Mutter auch ja die Bilder begutachtet, die ich am schönsten finde.

Ich weiß nur unsicher, wie meine Schwester zu all dem stand, was uns da aus der Welt der Erwachsenen entgegen kam. Aber das weiß ich genau: sie liebte es ganz besonders, wenn unsre Mutter Klavier spielte. Das geschah abends meist dann, wenn unser Vater verreist war. Wir liegen schon in den Betten, die Tür zum Salon ist einwandig offen, und wir verhalten uns mucksmäuschenstill. Schubert, Schumann, Chopin – unsere Mutter spielte sie flüssig gekonnt. Margot liebt die stillen ernsten Themen, ich solche, nach denen man tanzen kann. Margot war überhaupt stiller, verhaltener als ich. An wilden Spielen, wie ich sie zuweilen im Garten und mit anderen Kindern unternahm, beteiligte sie sich nicht. Mir scheint heute, als hätte schon über ihrer frühen Kindheit ein zarter Schatten gelegen, der sich später so tragisch verdunkelte.

Margot war das Sorgenkind unserer Eltern. Margot gedieh nicht so recht. Vom ersten Lebensjahr an war sie rachitisch gewesen, und bis zu ihrem Pubertätsalter behielt sie annormal magere Arme und Beine. Ihre Zartheit brachte mir den Kosenamen „Dickchen“ ein. Alle ärztliche Kunst änderte nichts an Margots Gesundheitszustand. Unsre Mutter war die Tochter des Chirurgen Hermann Tillmanns, der als außerordentlicher Professor an der Universität wirkte und mit dem Internisten Professor Heubner in Leipzig das erste Kinderkrankenhaus gegründet hatte.

Wie gewissenhaft befolgte unsere Mutter alle ärztlichen Anordnungen. Schließlich muß sie allem Kranksein gegenüber ängstlich geworden sein. Es war noch das antiseptische Zeitalter. Gegen Bazillen, die man nicht sah, wurde gekämpft, mit Essigsaurer Tonerde, mit Jod, mit Lysoform. Für die Gesundheit gab es im Winter für uns Kinder zweimal täglich einen Eßlöffel häßlich schmeckenden Lebertrans. Kein Wunder, daß ich glaubte, der liebe Gott würde Kranksein als Sünde ansehen, wenn man nicht selbst gehörig aufpaßte, wie die Mami das doch wollte.

Wie oft waren meine Knie augeschlagen! Aber ich hatte immer Glück, obwohl ich auch die üblichen Kinderkrankheiten, sogar die gefürchtete Diphterie, durchgemacht habe. An Mittelohrentzündung litt ich öfters. Dann kam der gute Onkel Carstens, ein stämmiger Holsteiner, der erste in Leipzig ansässige Kinderarzt, Schüler des Großvaters Tillmanns, über Jahrzehnte unser Hausarzt. In der Stadt war er bekannt, weil er als einer der Ersten ein großes offenes Auto mit einem Chauffeur besaß.

Unsere Mutter assistierte ihm wie eine gelernte Pflegerin. ZJum Schluß des Arztbesuches erschien dann auch manchmal unser Vater im Krankenzimmer. Er stand am Fußende des Bettes, und eine lebhafte Unterhaltung der Erwachsenen entspann sich, die man als Patient schweigend hinnahm.. Es ging dabei nicht um Krankheitsangelegenheiten. Nein, über unverstehbare Interessen der Erwachsenen, über Leute, die man nicht kannte, über Ereignisse in Stadt. und Land. Das Wort „Politik“ knüpfte sich mir später an diese Gespräche. Einmal hilft das Einträufeln von warmem Karbolglyzerin in das kranke Ohr nichts. Der Ohrenarzt Dr. Pfeiffer muß kommen. Ich sitze auf dem Schoß unserer Köchin, die mich festhalten soll. Ich meine, es war unsere gute Luise, die über Jahrzehnte mit unserer Familie verbunden blieb. Über der offenen Petroleumlampe glüht der Doktor eine lange Wadel aus, und dann geschieht es: das Trommelfell wird durchstochen. Ein großer Schmerz! Aber nachher ist alles gut. Verweint und verbunden liege ich flach im Bett. Selbst der Vater kommt und legt seine kühle/ seltsam weiche Hand auf meine Wange. Kranksein hatte aber auch gewisse Vorzüge. Man wird fast ausschließlich von der Mutter selhst versorgt, besonders wenn es eine ansteckende Krankheit ist. Man bleibt nicht im kalten Schlafzimmer; sondern wird tagsüber in Mutters Wohnzimmer auf dem Diwan gebettet.

Und wenn es schon auf die Besserung zugeht, kann man im Bett herrlich spielen, mit Papierpuppen, mit Postkarten. Und gegen Abend, ehe seine Lampe ins Arbeitszimmer gebracht wird, kommt der Vater in seinen weiten Hausstiefeln angestapft und bringt aus seinem Reich etwas Besonderes zum Anl’lehen. Bücher mit Bildern. Und wenn ich auch noch nicht lesen kann, die Geschichten dazu denke ich mir selbst aus. Einmal, während der Zeit der Masern – ich bin schon acht Jahre alt – , ist es ein großes Buch über die Jeanne d’Arc mit französischem Text und vielen höchst realistischen Illustrationen. Nachts träume ich schrecklich davon. Nicht von den mit Spießen bewaffneten Kriegsscharen. Aber von der armen gefesselten Johanna im Gefängnis, wie sie von englischen Soldaten geneckt wird. Auf mein Schreien stürzen alle herbei: die Eltern mit der Lampe, das Fräulein, die Köchin. Ich erkenne sie, ich werde wach, ich erzähle den Traum. Das war meine erste Begegnung mit der Jungfrau von Orleans. Das Buch verschwand auf lange Zeit, bis ich es mir wieder selbst herbeiholte. ~ber genug von Kranksein, davon das Tagebuch meiner Mutter ausführlich mit Fiebertabellen und den verwandten Medikamenten berichtet. Jetzt muß die Rede davon sein, wenn es bei Grauls „feierlich“ zuging. Der Glanz, der um Weihnachten, um einen Geburtstag lag, scheint mir noch heute unerloschen. Und war es nicht die Vorfreude, die uns Kinder am stärksten erfaßte? Beide Eltern hatten ein ausgesprochenes Talent, Überraschungen spannend zu machen. Dabei waren unsere Wünsche bescheidener als die Wünsche heutiger Kinder. Die Vorweihnachtszeit! Bis in das erste Schuljahr glaubten wir fest an das Christkind. Es füllt die herausgestellten Schuhe mit seltenen Näschereien. Ein goldenes Haar, das wir am Morgen auf dem Flurboden finden, verrät, wo es vorbeigeschwebt ist. Es hinterläßt sogar einmal eine Karte mit silberner zarter Schrift, als unser Vater auch seine Schuhe, und zwar alle, die er besitzt, aufgereiht hat. uPapi, sei nicht unbescheiden!“ Und er muß sich mit ein paar Nüssen begnügen. An den Adventssonntagen saßen wir Schwestern an den Weihnachtsarbeiten lür die Eltern, die reichlich vom Ehrgeiz des Fräuleins gesteuert wurden. Was wurde da heimlich vor der Mutter gestickt, gestrickt und genäht! Und dann war es soweit! Im Salon brennen die Kerzen am Klavier, die ganze Familie ist versammelt. Nach dem Singen der Weihnachtslieder – jedes Jahr wird die Reihenfolge neu bestimmt – liest unsre Mutter die Weihnachtsgeschichte vor. Wir Kinder sagen Gedichte auf – jedes Jahr wird es ein schwereres, bis ich selbst welche dichte – und überreichen den Eltern unsre kleinen Geschenke. Dann verlassen uns die Eltern. Es raschelt nebenan im Arbeitszimmer. Das Christkind? Die Tür geht auf, der Tannenbaum auf dem großen Tisch steht im Kerzenglanz – jedes Jahr ist er in gleicher Weise geschmückt. Wir alle, die Kinder, die Eltern, das Fräulein, die Mädchen haben ihren weißgedeckten Platz. Auf welche Weise die Dinge aber hingelegt sind, ein Buch, ein Baukasten, einmal ein neues Puppenkind mit einer vollständigen Babyausstattung, oder was es sonst sein mag, das macht das Festliche aus und wird in derselben Ordnung über Tage zu halten versucht. Der Geburtstagstisch stand immer im Eßzimmer, mit den Jahreslichtern, mit Blumen und einer Torte. Das war keine hausbackene Torte, sondern eine Torte vom Konditor mit einer Aufschrift oder einem Bild, das auf eine Eigenschaft anspielte, die sich das Geburtstagskind an- oder abgewöhnen sollte. Etwa: „Mach die Tür zu!“, „Finger aus dem Mund“, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“. Nachmittags kamen die Cousinen und Vettern mit ihren Müttern zur Schokolade, zu Gußzwiebäcken oder Streußelkuchen. Das Geburtstagskind trug einen frischen Blumenkranz im Haar und durfte bestimmen, was zuerst gespielt wurde. Ein Geburtstag aber, es muß mein vierter oder fünfter gewesen sein, begann freilich gar nicht fröhlich. Ich selbst verdarb den Vorabend mit einer schwer zu beeinflussenden Angewohnheit.

Der Übergang vom Tag zur Nacht, vom Spiel zum Schlaf muß mir Schwierigkeit gemacht haben. Dann versuchte ich gelegentlich nach dem Abendgebet im Bett, nach dem Gute-Nacht-Kuß der Mutter durch irgendein Anliegen das Schlafen hinauszuzögern. Fühlte ich mich von den Erwachsenen abgestellt? Fürchtete ich die kommende Dunkelheit~ Ängstigten mich Gedanken? Meine Mutter wurde bei meinem:. mehrmaligen Zurückrufen gewiß ungeduldig, ihr „Gute Nacht“ klang dann endgültiger. Und da setzte meine sich steigernde Heulerei ein, die selten durch Zuspruch, meist erst mit der Übermüdung endete.

So auch diesmal. Betreten stehe ich am anderen Morgen vor dem Geburtstagstisch. Die Kerzen strahlen, zwischen zwei Erikastöckchen liegt nichts als eine Rute, aus dünnen Zweigen gebündelt. Erst nach dem angeordneten Nachmittagsschlaf, den ich hellwach, mir Geschichten erzählend im Bett meiner Mutter verbringe, sieht der Tisch anders aus. Die Rute ist hinter den Erikastöckchen verschwunden. Ein Baukasten mit Häusern, Bäumen, Tieren und Menschen für ein ganzes kleines Dorf ist mein Eigentum. Der N~chmittag wird fröhlich wie je mit den geladenen Geburtstagsgästen. Niemand weiß etwas von der Rute. Nur Tante Malchen – das war die verwitwete Schwester unseres Großvaters Tillmanns, die über Jahre die Großnichten mit kunstfertig gestrickten, nicht unbedingt beliebten wollenen Jäckchen, Röckchen und Westen versorgte – greift beim Verabschieden noch hinter die Erikastöckchen und sieht mich mit ihren großen runden Augen an. „Was ist denn das?“. Ich habe ihr nicht geantwortet. Die Rute ist ein Symbol geblieben, einer Anwendung kann ich mich nicht erinnern. Die Schreierei muß aufgehört haben. Und zwischen mir und meiner Mutter galt fortan eine Verabredung. „Bett-Wass!“ sagte ich ihr beim Gute-Nacht- Kuß. Das bedeutete, daß sie mir einen Schluck Wasser bringen möchte, wenn sie zu Bett ging. Vor . allem dann, wenn sie abends einmal spät heimkam. Aus tiefem Schlaf geweckt werden, schlaftrunken einen Schluck Wasser nehmen und eingehuschelt so – gleich wieder weiterschlafen, dieses Gefühl der Geborgenheit ließ mir meine Mutter denn treulich zukommen. Nun aber noch z~ Geburtstag unseres Vaters. Er schien mir besonders wichtig, denn am 24.Juni hatten die Leipziger Kinder vor dem ersten Weltkrieg schulfrei. Es war Johannistag. Unser Vater wünschte sich stets Rosen und Erdbeeren. Und so standen in seinem Zimmer manche der Vasen und Schalen mit Rosen gefüllt. Mittags gab es eingezuckerte Erdbeeren, sogar oft auch Walderdbeeren. Dem kleinen Bruder zerquetscht das Fräulein einmal beim festlichen Mahle die Beeren mundgerecht auf seinem Teller. 80 etvcas mißbilligt unser Vater. Der liebe Gott habe die Erdbeeren ganz wachsen lassen! Er hat recht, denke ich erschrocken. Wir Schwestern holen wohl auch mit der Mutter unseren Vater an seinem Geburtstag mittags vom Museum ab. Wir müssen vom Trönd – linring durch die Altstadt bis zum Königsplatz laufen. Im Grassimuseum, einem mächtigen Steinbau aus der Gründerzeit, umfängt uns kühle Luft. An Vitrinen vorbei gelangen wir in das geräumige Direktionszimmer. An ihrem Schreibtisch sitzt hoheitsvoll die Assistentin, die junge Dr. Marie Schütte, eine schlanke Norddeutsche. Von ihr wird später die Rede sein, sie spielt in meinem Leben eine wichtige Rolle. Unser Vater führt uns vielleicht durch die Säle des Museums, um unsrer Mutter etwas Neues zu zeigen. Da treffen wir die Museumsbeamten, sie tragen eine Art Uniform und begegnen dem Vater in militärischer Haltung. Weil er Geburtstag hat? Nein, immer. Denn sie kommen auch oftmals in unser Haus, etwas abzuliefern oder gar etwas zu werkeln an Bücherborden, an Bildern. Es waren dies der Schlosser Beck, später ersetzt durch Herrn Faul Linke, dann der Tischler Lichtenstein und der Buchbinder Schneider. ~ letztere war von uns Kindern besonders geliebt. Wenn er zu Hause unseres Vaters liebenswürdig erteilten Anweisungen in Empfang nahm, blinzelte er uns schon zu. Ir~gendeine Überraschung wartete auf uns, die er uns auf dem Fl~, nicht im Arbeitszimmer geben würde. Einmal ist es ein kleines sich nach beiden Seiten öffnendes Zauberbuch, das einen Geldsch4n verschwinden lassen kann, ein anderes Mal ein tadellos gebuchbinderter Kasten. Es gibt ihn noch heute. Ich bin abgekommen vom Schildern des Feiertäglichen im Hause Graul. Denn nicht zu vergessen sind die Pflichtmäßigen Feste. Ein- bis zweimal im Winter gaben unsere Eltern in den Vorkriegsjahren abends eine Gesellschaft. Schon die Vorbereitungen dazu schienen mir aufregend gespannt. Eine Liste mit den Namen der etwa zwanzig Einzuladenden lag tagelang auf dem Schreibtisch unserer Mutter. Vorgedruckte Karten wurden ausgefüllt, daß sich Herr und Frau Doktor Graul freuen würden, wenn Wö~ Soundso und Frau ~hlin dann Imd dann ZUlll! Abendessen kämen. Schriftliche Zusagen und Absagen trafen ein, neue Karten wurden geschrieben. Für die Tischordnung, die die Eltern lange gemeinsam berieten, wurden Kärtchen mit den Namen würdiger Bekannter, guter Freunde und weniger Verwandter versehen. Eine Kochfrau wurde bestellt, vielleicht noch eine zusätzliche Hilfe zum Servieren vom den Schwesterfamilien ausgeliehen, Einkäufe wurden getätigt oder telefonisch b’estellt;. Und natürlich wurde: gerechnet. Aber dann war der Tag plötzlich da. Au~s Schränken und Kommoden holt unsere Mutter silberne Bestecke, Gläser, kostbares Porzellan, alles Dinge, die weit vom Alltag entfernt, stets verschlossen ruhen bis auf diesen Tag der Gesellschaft. Öfter wie sonst schellt es an der Tür. Da bringen dme Boten des Fleisch, die Fische, Gebäck, Gemüs~. Schon am Morgen wird die Tafel im Eßzimmer gedeckt. Im Arbeitszimmer des Vaters werden an den Bücherregalen neue Kerzen in die Ständer gesteckt. Denn bei Grauls ist es dunkel. Das wissen die Gäste und ein Spaßmacher bringt einmal eine Stallaterne mit.

In der Küche wirkt seit Mittag neben der Köchin als rieige Respektsperson die Kochfrau. Wir Kinder dürfen nur minutenweise still an der Küchentür stehen bleiben, um zuzusehen, was da alles Wunderbares gebruzzelt wird. Gerichte sind es, die es sonst bei Grauls nicht gibt. Und wir freuen uns auf den morgigen Tag aufs Reste-Essen. Gegen acht Uhr nahen die Gäste. Da liegen wir schon in den Betten, ausnahmsweise alle drei zusammen im kleinen Kinderschlafzimmer neben dem Salon. Denn die Damen legen ihre Garderobe im S~hlafzimmer der Mutter ab, wo sonst eines von uns abwechselnd schläft. Wir raten die Stimmen der uns Bekannten. Wir staunen über das zunehmende Stimmengewirr. Wir hören, wie es abflaut. Denn jetzt ist man hinüber ins Eßzimmer gegangen. Nun kann man wagen, vorsichtig auf den Flur zu gucken, wo die Küchentür auf und zu geht. Es wird serviert. Wir werfen gewiß auch einmal die Bettkissen hinaus, damit der andere sie sich unentdeckt, wieder holen muß. Aber bestimmt schreitet da das Fräulein ein. Habe ich als etwa Sechsjährige diese ganze aufwendige Angelegenheit einmal zu stören versucht? Am Spätnachmittag des Tages der Gesellschaft verstecke ich mich. Nur hinterm Schrank im Kindervorzimmer. Das Getriebe kommt ins Stocken. Ich merke, wie man mich sucht. Das Fräulein ruft, unsre Mutter fragt besorgt die Geschwister nach mir. Der kleine Bruder kann ja noch nicht antworten! Das Mädchen wird mit der Lampe in die hinteren Zimmer geschickt. Ich höre‘, wie unser Vater aus seinem Zimmer geholt wird. Die Küchentür öffnet sich: Fragen und Antworten. Schließlich gehe ich still und langsam auf den Flur und bleibe im Halbdunkel stehen. Aus dem geöffneten Speisezimmer fällt Licht. Ein Mädchen aus dem Blumengeschäft, beteiligt bei der Sucherei, schmückt die Tafel mit Veilchensträußchen. Dann kommen sie heran: die Eltern, Margot, das Fräulein, das Mädchen mit hochgehobener Lampe. „Da ist sie ja!“. Ich werde nicht gescholten. Als mir meine Mutter leise sagt, nun hätte man auf den Hof hinunter gehen wollen, vielleicht sei ich aus dem Fenster gefallen, da reut und rührt mich die Sorge, die man sich um, mich machte.