„Ich habe immer wahnsinniges Glück gehabt.“
Der Vater war Reichsgerichtsanwalt, die Tochter machte ihr Abitur in Schloss Salem. Die ganze Welt des Wissens stand der jungen Renate Drucker offen. Dann kamen die Nationalsozialisten mit ihren „Rassegesetzen“ und der Krieg. Dennoch schaffte sie es an die Spitze des Universitätsarchivs.
Eigentlich wollte Renate Drucker, jüngster Spross einer Leipziger Juristenfamilie, Jura studieren. Doch nach dem Abitur im Schloss Salem beschäftigte sie sich lieber mit Geschichte, Germanistik, Anglistik und lateinischer Philologie an der Universität Leipzig. Im April 1938 erteilte die Universität ihr ein Studienverbot wegen fehlendem Ariernachweis, auch die Institutsräume durfte Renate Drucker plötzlich nicht mehr betreten. Nationalsozialisten wurde sie wegen ihrer jüdischen Familienwurzeln diskriminiert und bekam auch keine Arbeitserlaubnis.
Zwar hob die Universität im Jahr 1941 das Studienverbot wieder auf, das Staatsexamen oder eine Promotion blieben ihr in Leipzig jedoch weiterhin verwehrt. Renate Drucker setzte ihr Studium daher in Straßburg fort, wo sie am 23. November 1944 promoviert wurde – nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen. Die Universität Tübingen stellte ihr eine Not-Promotionsurkunde aus.
Nach Kriegsende zurück in Leipzig, arbeitete sie als Sekretärin im Berufsausschuss der Rechtsanwälte und Notare und seit 1947 als Dozentin für mittelalterliches Latein an der Universität. 1950 wurde sie zur Direktorin des Universitätsarchivs berufen. Neben Forschungen zur Universitätsgeschichte war sie unermüdlich mit dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Archivs beschäftigt. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1977 lehrte sie zudem als außerplanmäßige Professorin an der Sektion Geschichte. Wegen ihrer Verdienste um die Aufarbeitung der jüdischen Vergangenheit Leipzigs wurde sie 1997 mit dem Sächsischen Verdienstorden ausgezeichnet. Im gleichen Jahr verlieh ihr die Universität Leipzig den Titel der ersten Ehrenbürgerin. 92-jährig starb Renate Drucker am 23. Oktober 2009 in Leipzig.
Und in Straßburg widerfuhr ihr 1944 etwas, was sie noch heute mit den Worten kommentiert: „Ich habe immer wahnsinniges Glück gehabt.“ An einem Dienstagabend, so erinnert sie sich, machte sie um l8 Uhr ihre letzte Prüfung, nahm vom Prüfer sogar noch die Unterlagen in Empfang, die sie sofort zur in Tübingen angesiedelten Außensstelle der Straßburger Uni mitnehmen sollte. „Am Donnerstag marschierten Amerikaner und Franzosen in Straßburg ein“, so Drucker. Da ihre Papiere aber bereits in Tübingen waren, bekam sie von dort einige Wochen später ihr Doktordiplom zugeschickt.
Renate Drucker 1917-2009: Nekrolog (Veröffentlichung des Universitätsarchivs Leipzig) Broschiert – 24. August 2010
Im Oktober 2009 verstarb nach kurzer schwerer Krankheit Frau Prof. Renate Drucker im Alter von 92 Jahren. Als Ehrenbürgerin der Universität, als langjährige Vorsitzende der Ephraim Carlebach Stiftung, als Professorin, als Archivarin war sie vielen Leipzigern und darüber hinaus in der akademischen Zunft weithin bekannt. Bis zuletzt von einer großen geistigen Vitalität und einer ungebrochenen Lebensfreude durchdrungen, hat sie mit ihrem inneren Feuer jeden Gesprächspartner sogleich in ihren Bann gezogen. Dabei hatte das schwierige 20. Jahrhundert ihr mehr als nur eine Wunde zugefügt. Mitten im Ersten Weltkrieg geboren, war sie in der turbulenten Zeit der Weimarer Republik aufgewachsen um schließlich, kaum an der Universität eingeschrieben, vom politisch-rassistischen System des Nationalsozialismus an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Am Ende des Zweiten Weltkrieges stand auch ihre Familie weitgehend vor dem Neuanfang. In der DDR blieben ihr als Bürgerliche viele Wege weiterhin verschlossen. Von vielen Freunden und Kommilitonen war sie nun durch die innerdeutsche Grenze getrennt. Dennoch blieb sie die freundliche und intelligente Frau, die zierliche und jugendliche Person, die von der Last historischer Schicksalsschläge zwar gebeugt, aber nicht gebrochen wurde. Die Universität Leipzig und die Ephraim Carlebach Stiftung widmeten Frau Drucker am 15.12.2009 eine gemeinsame Gedenkfeier. Die Ansprachen und Erinnerungen jenes Abends sind nun in diesem Band versammelt und wurden ergänzt um weitere Beiträge ihr einst nahestehender Wegbegleiter.