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Die Siedler an der Leipziger Märchenwiese im Jahre 1932

Über den Lebensalltag der ersten Bauherren und Siedler in der heutigen Mariental-Gudrun-Siedlung liegt eine historische Quelle vor, aus der man interessante Details entnehmen kann. Zunächst wird man in einem Adressbuch wohl kaum brisante Informationen vermuten – es kommt aber darauf an, wie man sie im historischen Zeitgefüge betrachtet.

Das Adressbuch der Stadt Leipzig aus dem Jahre 1933 zählt nicht nur die bebauten und postalisch adressierbaren Grundstücke auf, sondern liefert auch Angaben zu den sozialen Verhältnissen der Bewohner. Für jedes verzeichnete Gebäude wird der Eigentümer benannt und sein ausgeübter Beruf verzeichnet. Darüber hinaus finden sich Angaben über den sozialen Status (Witwe) und gar zu körperlichen Behinderungen der Bewohner (Taubstumm). Schließlich werden bei den vermieteten Immobilien die Hausgenossen mit ihren Berufen und Tätigkeiten genannt. Interessant aus heutiger Sicht ist auch, wer sich einen der, damals recht teueren Telefonanschlüsse leisten konnte.

Bevor jedoch ein Einblick in die sozialen Verhältnisse der ersten Siedler erfolgen kann, muss man sich wenigstens etwas mit der allgemeinen wirtschaftlichen Situation jener Jahre in Deutschland und in Leipzig vertraut machen.

Seit dem Jahre 1923, mit dem Ende der deutschen Mark nach der schweren Inflation und der Einführung der Rentenmark, stagnierte das deutsche Wirtschaftswachstum. Erst ein Wirtschaftsplan von 1924, benannt nach seinem Erfinder, dem amerikanischen Bankier und Politiker Charles Dawes (186-1951), bewirkte wieder einen Aufschwung in der Weimarer Republik. Für bindende Zusagen über die Begleichung der von den alliierten Siegermächten verlangten Reparationszahlungen wurden umfangreiche Kredite auf Dollarbasis für deutsche Unternehmen, Kommunen und Länder bereitgestellt. Bis zum Jahre 1929 erhöhte sich das deutsche Wirtschaftswachstum sprunghaft und diese Periode wird heute als „Goldene Zwanziger“ bezeichnet.

Diese glücklichen Jahre endeten allerdings abrupt 1929 und ihnen folgte eine wirtschaftliche Chaosperiode bis 1933. Damals kamen erstmals Begriffe wie Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und politisch-wirtschaftlicher Notstand auf. Den reichsweit mehr als 5 Millionen Arbeitslosen im Jahre 1932 standen kaum noch Arbeitsplätze oder halbwegs gesicherte Einkommen zur Verfügung. Die Reichsregierung in Berlin wartete lange Zeit einfach ab und hoffte auf eine Selbstregenerierung der Wirtschaft. Als die Politik schließlich doch reagierte, suchte sie mit den falschen Mitteln, über eine rigorose Spar- und Deflationspolitik, gegen die Krise anzugehen. Betroffen waren davon aber in erster Hinsicht die kleinen und mittleren Einkommensschichten. Die Arbeitslosenunterstützung wurde in der Höhe und in der Dauer drastisch gekürzt und ganze Personengruppen (wie verheiratete Frauen und Jugendliche) wurden völlig vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Von den amtlich registrierten Arbeitslosen erhielt gut ein Drittel überhaupt kein Geld vom Staat. Diejenigen, die noch Arbeit hatten, mussten Lohnkürzungen hinnehmen, während andererseits die Verbrauchssteuern immer weiter angehoben wurden.

Zugleich drängten immer mehr Menschen in die großen Städte – in der Hoffnung auf eine auskömmliche Existenz – so wurde auch die Stadtbevölkerung in Leipzig immer zahlreicher. In den zehn Jahren zwischen 1920 und 1930 erlebte die Stadt einen Zustrom von 100.00 Menschen, und nach dem Volkszählungsergebnis von 1933 wohnten 713.000 Menschen in Leipzig. Soviel Einwohner hatte Leipzig weder zuvor noch jemals später und dieser enorme Konzentrationsprozess sorgte für eine zusätzliche Problemverschärfung: Denn es stand einfach nicht genügend Wohnraum zur Verfügung, um für eine halbwegs soziale Unterbringung der arbeitsuchenden Massen zu sorgen.

Bei diesem historischen Rückblick wird schnell klar, dass die Siedlungsgründungen und die persönliche Lage der Siedler in den ersten Jahren unter einem schlechten Stern standen. So stellt sich die Frage, wer konnte sich damals überhaupt als Siedler auf lange Sicht und in eine sehr ungewisse Zukunft hinein verschulden? Wie viel verdiente man damals überhaupt?

Legt man das Jahr 1926 zugrunde, so ergeben sich in etwa folgende monatliche Durchschnittseinkommen bei angestelltem Personal in der Universität Leipzig:

Hilfsarbeiter 70 Reichsmark (3 Reichsmark Lohnsteuern)

Sekretärin 90 Reichsmark (4 Reichsmark Lohnsteuern)

Facharbeiter 100 Reichsmark (4 Reichsmark Lohnsteuern)

Lehrer 170 Reichsmark (7 Reichsmark Lohnsteuern)

Handwerksmeister 220 Reichsmark (10 Reichsmark Lohnsteuern)

Obermaschinist 280 Reichsmark (10 Reichsmark Lohnsteuern)

Stationsarzt 400 Reichsmark (22 Reichsmark Lohnsteuern)

Wiss. Assistent 400 Reichsmark (22 Reichsmark Lohnsteuern)

Studienrat 450 Reichsmark (22 Reichsmark Lohnsteuern)

Oberarzt 500 Reichsmark (42 Reichsmark Lohnsteuern)

Professor 750 Reichsmark (45 Reichsmark Lohnsteuern)

Universitätsprofessor 1400 Reichsmark (90 Reichsmark Lohnsteuern)

Die Einkommensunterschiede waren also beachtlich, ein ordentlicher Universitätsprofessor verdiente monatlich gut das 14fache Gehalt eines Facharbeiters. Die Steuerbelastung, das wird auch deutlich sichtbar, war gering. Betrachtet man die Angaben in den Adressbüchern an Hand zweier Straßenzüge (An der Märchenwiese, Elfenweg) so kann man die ursprüngliche Siedlergemeinschaft in sozial rekonstruieren.

Von den 52 Privathäusern, die damals An der Märchenwiese standen, waren ein gutes Drittel von den Eigentümern untervermietet worden: 17 Siedler versuchten dadurch das eigene Einkommen aufzubessern. Es gab sogar Mehrfach-Untervermietungen, denn bei drei Siedlern sind jeweils mehr als eine Mietspartie angegeben. Offenbar wurde dann die erste Etage mit Einzelräumen vermietet. Dafür waren die Häuser aber architektonisch keineswegs gedacht – die Verhältnisse in Bezug auf Gemeinschaftstoiletten, Bad- und Küchennutzung dürften sich schwierig gestaltet haben. Lediglich 9 Häuser waren an das Telefonnetz angeschlossen -auch hier dürfte es sich um eine Frage der Kosten-Nutzenrelation gehandelt haben, denn nur eines der Häuser war untervermietet. Schon der Anschluss ans Telefonnetz und der Kauf eines Apparates war 1929 mit Kosten in Höhe von 80-90 Reichsmark verbunden. Hinzu kam eine monatliche Gebühr in Höhe von 8 Reichsmark was etwa der Summe des Lohnsteuerabzuges für ein normales Gehalt entsprach. Das Ortsgespräch kostete übrigens pauschal 10 Pfennige. Einen derartigen Anschluss leistete man sich nur, wenn er auch wirklich beruflich benötigt wurde, oder wenn genügend Geld im Hause war. Zum Vergleich: im Poetenweg (Leipzig-Gohlis) einer damals sehr vornehmen Gegend, findet sich 1929 in jedem Haus und nahezu jeder Etage ein privater Telefonanschluß. Wie es mit den Einkommen der Siedler im Leipziger Süden stand, wird aus den Berufsangaben der Adressbücher wird schnell deutlich: hier war keine Wohnsiedlung der gehobenen Klassen entstanden. Die Berufsangaben der Eigentümer, die ja auch alle in ihren Häusern wohnten und sie keineswegs als Kapitalanlage nutzten, bewegen sich im durchschnittlichen Mittelfeld der Gesellschaft, was Einkommen und Bildung betrifft. Den vermutlich besser dotierten Stellen (zwei Oberingenieuren, einem Universitätsdozent, zwei Studienräten, einem Rechtsanwalt) mit Universitätsausbildung, stand nur ein Großhändler (Kaffeegroßhändler) zur Seite. Hier kann man eine Einkommensgruppe mit einem Verdienst von 350 bis 450 Reichsmark monatlich vermuten.

Bei den anderen Berufsangaben wird die tatsächliche Einkommenssituation nur ungenau erkennbar. Ob ein Kaufmann, Friseur, Schlossermeister, Buchhändler oder Prokurist wirtschaftlich erfolgreich war, lässt sich an seiner bloßen Berufsbezeichnung nicht ablesen. Legt man ein durchschnittliches Einkommen als Messlatte an, so wird es sich wohl in einem Bereich zwischen 200 und 300 Reichsmark monatlich bewegt haben.

Übrig bleibt demnach eine dritte soziale Gruppe, die von Vertretern, Maurern, Beamten, Rentnern und Pensionären und den Privata (Witwen) gebildet. Fast alle Untervermietungen resultieren aus derartigen Berufsbezeichnungen. Bei diesen Siedlern ist daher eher von mittleren Einkommen im unteren Bereich auszugehen – wohl um 150 bis 250 Mark.

Während sich in den anderen Siedlungsstraßen, soweit sie schon bebaut waren, ähnliche Sozialstrukturen finden, so unterscheidet sich der Elfenweg deutlich davon. Die Bebauung durch die Lehrerortsgruppe lässt erahnen, welche Berufe hier zu finden waren. Tatsächlich sind 10 der 16 Häuser von Lehrern bewohnt oder an sie vermietet. Die für die Märchenwiese gefundenen Einkommensunterschiede der Siedler werden auch hier sichtbar. Die oberen Einkommensschichten sucht man hier vergebens, alle Berufsangaben sind eher der Mittelschicht zuzurechnen. Neben den eher gut verdienenden Oberlehrern und einem promovierten Referenden, finden sich Lehrer, Ingenieure, Techniker und Beamte. Auch hier spreizt sich das Einkommen noch weiter auf, wie an der Märchenwiese, denn gut die Hälfte davon waren gezwungen ihre Häuschen unterzuvermieten. Lediglich ein einziger Telefonanschluss findet sich in der gesamten Strasse – bei einem Kaufmann. Übrigens gehörten auch die Lehrer und Oberlehrer an der Märchenwiese nicht zu denjenigen, die einen Telefonanschluß besaßen.

Von Dr. Jens Blecher.

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Universitätsarchiv Leipzig 2016.

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